Schicksalsstunde der „Goethe“ vor Oberwinter
Ein Zeitzeuge erlebte die Versenkung vor 60 Jahren
Horst Eckertz
Am 4. August 1913 startete der für einen kombinierten Güter- und Fahrgastverkehr auf der Gebrüder Sachsenberg-Werft in Köln-Deutz gebaute Dampfer Goethe zu seiner Jungfernfahrt. Damals ahnte wohl keiner seiner Erbauer, dass „die Goethe“ historischer Zeitzeuge eines turbulenten Jahrhunderts werden sollte. Oder war vielleicht die Namensgebung des großen deutschen Dichters eine Prophezeiung ihres Überlebens durch alle Zeitwirren? Im Jahr 2003 beging „die Goethe“ ihr 90-jähriges Jubiläum. Bis heute zeigt sie keinerlei Ermüdungserscheinungen, wenn sie auf Nostalgietour mit ihren Fahrgästen durch das Rheintal dampft.
Doch vor 60 Jahren, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, schien ihre Existenz beendet. Wie alle (Köln-Düsseldorfer) Rheindampfer erhielt auch die „Goethe“ 1941 einen hässlichen blaugrauen Farbanstrich. Die meisten „Köln-Düsseldorfer“ wurden für die Durchführung von Sonderfahrten für Evakuierungsmaßnahmen und den Kriegsgefangenentransport eingesetzt. Bereits 1941 hatte man die nicht in Fahrt befindlichen Schiffe auf die Mittelrheinhäfen Oberwinter, Brohl und Loreley verteilt. Trotz der Kriegsereignisse ließ man jedoch noch einen reduzierten Rheinreiseverkehr zu. Zum ersten Mal erfolgte am 29. Juli 1942 oberhalb von Koblenz ein Fliegerangriff auf die vollbesetzte „Goethe“, bei dem das Schiff beschädigt und 21 der ca. 600 Passagiere verletzt wurden. Obwohl mehrere Fliegerangriffe auf voll besetzte „Köln-Düsseldorfer“ dokumentiert sind, unternahmen auch noch 1944 Anwohner Ausflugsfahrten auf den Schiffen bis der Personenverkehr auf dem Rhein im September 1944 endgültig eingestellt wurde. Ihre Tragödie erlebte die „Goethe“ dann kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges vor Oberwinter. Als neunjähriger Junge erlebte ich diese am Hafen in meinem Elternhaus „hautnah“ mit.
Die Front rückt näher
Bereits seit dem Spätherbst 1944 hörte man fast täglich, je nach Windrichtung, Artilleriedonner zwischen den zurückweichenden deutschen Einheiten und den anrückenden amerikanischen Truppen. Die Ardennenoffensive hatte Ende 1944 nochmals kurzfristig den amerikanischen Vormarsch gebremst. Nach ihrem Scheitern drangen die Amerikaner aber schnell zum Rhein vor. Nachts überflogen britische Bomberverbände in dichten Pulks von hunderten Flugzeugen unter starkem Motorenlärm, kaum durch deutschen Flakbeschuss gestört, in großer Höhe Oberwinter. Amerikanische Flieger erschienen tagsüber und verbreiteten Schrecken unter der Bevölkerung, wenn sie plötzlich auftauchten und Einzelbomben abwarfen oder mit Bordwaffen gezielt Personen beschossen. In Oberwinter war Ende 1944 eine technische Wehrmachtstruppe stationiert, die Verteidigungseinrichtungen aufbaute. Zu ihrer Unterstützung wurden russische Kriegsgefangene eingesetzt. Sie waren auf dem 1913 gebauten und 1925 zum Doppeldecksalonschiff umgebauten Köln-Düsseldorfer „Goethe“ untergebracht. Das Schiff ankerte zunächst an der nördlichen Hafeneinfahrt, und die auf ihr einquartierten Gefangenen rückten täglich, bewacht von SA Männern, aus, um Schützengräben im Oberwinterer und Unkelbacher Wald auszuheben und an Straßen und Wegen sogenannte Panzersperren mit beiderseitigen Palisadenwänden anzulegen. Viele der damaligen Schützengräben sind heute noch, überwuchert von Strauchwerk, im Wald zu sehen.
Die „Goethe“ ankert vor unserem Haus
Im Spätherbst 1944 kam die „Goethe“ eines Morgens rheinaufwärts und ankerte etwas oberhalb des Rastplatzes Siebengebirgsblick, direkt vor meinem Elternhaus. Man hoffte, dass das mit Tarnfarbe graugestrichene Schiff hinter der Steilmauer an der heutigen B9 von den meist aus westlicher Richtung einfliegenden alliierten Flugzeugen nicht entdeckt würde. Die Verlegung des Schiffes direkt vor unser Wohnhaus erfüllte meine Mutter mit großer Sorge. Sie ahnte wohl voraus, dass es eines Tages doch von den Tieffliegern, die in den letzten Kriegswochen ungestört ganz dicht über den Rhein rasten, unter Beschuss genommen würde und wir dann nicht verschont blieben. Als Junge beobachtete ich täglich, wie russische Gefangenentrupps in zerlumpter Kleidung, bewacht von SA Männern, zu ihren Arbeitsplätzen ausmarschierten und spätnachmittags über den Rastplatz wieder zu ihrer Schiffsunterkunft zogen. Noch heute haftet das Bild in meiner Erinnerung, als eines Abends, wohl im November 1944, ein großer Trupp der Gefangenen an der Clausen-Werfthalle müde in Richtung „Goethe“ zog. Als sie in Höhe des Rastplatzes waren, fuhren zwei Traktoren mit Anhängern voller Rüben vorbei, auf denen auch einige Gefangene saßen. Sie warfen über die Köpfe der vorbeiziehenden Russen Rüben auf den Rastplatz. Die Russen stürzten sich darauf und jeder versuchte, eine in seinen Besitz zu bringen. Die SA-Wachsoldaten ließen sie gewähren und schritten nicht ein. Fast täglich beobachtete ich auch wie ein Gefangenentrupp in großen Kannen, die zu zweit getragen wurden, Wasser zum Trinken und für die Essenbereitung im nahegelegenen Schulgebäude holen musste. Öfters, insbesondere bei der abendlichen Rückkehr vom Arbeitsplatz, entfernte sich trotz strenger Bewachung ein Gefangener aus der Gruppe und klingelte an unserer nicht einsehbaren Haustüre. Meine Geschwister oder ich öffneten die Türe und standen einem hungernden Kriegsgefangenen gegenüber. Der bittende Blick bedurfte keiner Worte, zumal wir uns sprachlich ja auch nicht hätten verständigen können. Der Russe wartete draußen und ich bei angelehnter Türe drinnen, bis meine herbeigerufene Mutter schnell ein Brot in der angrenzenden Küche bereitet hatte, das ich dann durch die geöffnete Türspalte, eingewickelt in Papier, herausreichte. Der Russe versteckte das Brot in seiner zerlumpten Weste, dankte mit einem schweigenden Blick und schlich entlang der Tujahecke, die unser Grundstück vom Hochwasserdamm trennte, über Autostraße und Rastplatz zum Schiff. Jeglicher Kontakt zwischen den Gefangenen und den Deutschen war verboten und hätte bei Entdeckung durch die Wachmannschaft strengste Bestrafung für den Russen zur Folge gehabt. Anfang März 1945 waren die deutschen Truppen in teilweiser Auflösung begriffen, und vereinzelte Soldatengruppen zogen zu dem noch intakten Rheinübergang, der Brücke von Remagen. Wir hatten durch die örtliche Verwaltung als Rheinanlieger die Anweisung, die Fenster nur zuzudrücken, ohne aber die Hebel zu schließen, da man täglich die Sprengung der Brücke von Remagen erwartete, die ja Gott sei Dank missglückte. Bei fest verschlossenen Fensern bestand die Gefahr, dass durch den zu erwartenden Luftdruck die Scheiben zersprangen.
Der Tieffliegerangriff
In der Nacht vom 2. auf den 3. März hatten wir mehrere der versprengten Soldaten als Einquartierung im Haus, die in den Morgenstunden des 3. März weiterzogen. Am gleichen Morgen fanden starke Bombenabwürfe im gegenüberliegenden Rheinbreitbach statt. Ständig kreisten amerikanische Einzelflieger über dem Rhein, die versuchten, die Brücke von Remagen zu bombardieren. Wir saßen fast den ganzen Tag in unserem Luftschutzkeller, in dem wir im letzten Kriegsjahr auch nachts schliefen. Am frühen Nachmittag kamen zwei der Soldaten, die nachts bei uns geschlafen hatten zurück, da sie keine Verbindung mehr zu ihrer Truppe fanden. Genau in diesem Moment ertönte die Sirene und gab „akute Luftgefahr“. Dieses Warnsignal war in den letzten Kriegswochen eingeführt worden, bestand aus zweimaligem kurzen Aufheulen der Sirene und zeigte an, dass ein direkter Luftangriff unmittelbar bevorstand oder bereits im Gange war. Plötzlich rasten zwei Tiefflieger im Sturzflug heulend nieder. Wir rannten zusammen mit den beiden deutschen Soldaten in den Keller. Unmittelbar darauf erfolgten heftige Detonationen. Die Soldaten rissen die Eisentüre unseres Luftschutzkellers zu und sagten zu meiner Mutter, die Bombeneinschläge sind unmittelbar am Haus, was daran erkennbar war, dass sich der Kellerboden anhob und sich die Kellerwände bewegten. In wenigen Minuten war der Angriff vorüber. Meine Mutter ging mit den beiden Soldaten in die obere Wohnetage, um eventuelle Bombeneinschläge zu sichten. Wir Kinder mussten im Keller warten und dann rief sie: „Das Schiff liegt ganz schief!“. Wir stürzten nach oben.
1945
vor Oberwinter versenkt: der Dampfer „Goethe“.
Dahinter das Elternhaus des Autors, in dem er den Bombenangriff auf das Schiff
miterlebte.
Schreie Verletzter waren zu hören und Menschen eilten herbei. Neben unserem Haus, auf dem Gelände des heutigen Gasthauses Rheinkrone, lag das Hinterdeck der „Goethe“ und an unserer Hauswand klebten Marmeladeneimer, die der Luftdruck der Explosion über die Autostraße geschleudert hatte. Eine riesige Wasserfontäne hatte auf den Gehwegen große Pfützen hinterlassen, im hinter dem Haus liegenden Gartenpfad floss ein Wasserrinnsal. Ansonsten blieb unser Wohnhaus, ja sogar die Scheiben, die dank der niedergedrückten Klinken nur aufgesprungen waren, unbeschädigt, da die hohe Kaimauer den Hauptluftdruck abgehalten hatte. Zum Glück befanden sich zum Zeitpunkt des Angriffes die meisten der russischen Gefangenen noch auswärts bei der Arbeit an den Schützengräben. Die an Bord befindlichen 18 bis 20 Männer wurden getötet. Ein Bombenvolltreffer hatte das Hinterschiff zerstört, es war ein einziger Trümmerberg und ließ das Vorderschiff an der Galerie abbrechen. Das Wasser plätscherte von der Salondecke. Die Habseligkeiten der Gefangenen, Decken und Kleidungsstücke, lagen neben unzähligen Eisenteilen überall verstreut umher. In der Frühe des nächsten Morgens wurden die beim Luftangriff getöteten Russen von den Oberwinterer Gemeindearbeitern aus den Schiffstrümmern geborgen und auf Tragbahren zu einem auf dem Rastplatz stehenden Handwagen gebracht. Meine Mutter ließ die Rollläden an unserem Schlafzimmerfenster herunter um zu verhindern, dass wir Kinder dabei zusahen. Dies hielt uns jedoch nicht davon ab, durch einen Rollladenschlitz das grausame Geschehen zu beobachten.
Die 1996 wieder in Betrieb genommene „Goethe“ ist der letzte Schaufelraddampfer auf dem Rhein.
Die getöteten russischen Soldaten fanden auf dem Oberwinterer Friedhof ihre letzte Ruhestätte. Die SA-Mannschaft und ihre Zwangsarbeiterkolonne setzten sich mit dem ebenfalls in Oberwinter liegenden Schiff „Westmark“ ans andere Rheinufer nach Unkel ab, wo sie das Schiff nach Verlassen an der Anlegebrücke zum Sinken brachte. Wenige Tage nach der Schiffskatastrophe rückten die Amerikaner in Oberwinter ein. Als erstes Fahrzeug kam am Nachmittag des 7. März ein amerikanischer Jeep über die Autostraße und wurde in Höhe der Pfarrer-Sachsse-Straße - sie hieß früher „Schulstraße“ - von der anderen Rheinseite beschossen. Er stürzte beim Ausweichmanöver den damals noch unbebauten Gartenhang hinunter auf das Grundstück des heutigen Gasthauses „Rheinkrone“. Die Amerikaner schoben das Fahrzeug durch unser Gartengelände über die B9 - sie trug damals noch den Namen „Hindenburgufer“ - und bauten eine Beobachtungsstation zur anderen Rheinseite auf dem Rastplatz auf. Nach Kriegsende diente uns Kindern die zerstörte „Goethe“ einige Jahre als Spielstätte. Taucher holten später aus dem Schiffsrumpf Porzellan, Bestecke und auch Steinkohle heraus. Eisen und Holzteile vom Schiff fanden in den Mangeljahren vielfache Verwendung. Sie boten auch dem Oberwinterer Fährmann Peter Wüst, dessen Boot vor dem Einmarsch der Amerikaner im Hafen versenkt worden war, ein willkommenes Ersatzteillager, um sein Fährboot „Isolde“ wieder zu reparieren.
Letzter Schaufelraddampfer auf dem Rhein
Die „Goethe“ selbst wurde 1949 gehoben und wiederhergestellt. Sie fuhr dann auf demRhein, bis ihr 1989 der Technische Überwachungsverein die Betriebserlaubnis entzog. Danach dümpelte sie mehrere Jahre im Köln-Niehler Hafen, ehe sich die KD entschloss, den Dampfer zu restaurieren. Am 28. August 1996, zum 247. Geburtstag des großen deutschen Dichters, nahm sie ihre Fahrten auf dem Rhein wieder auf. Als letzter Schaufelraddampfer auf dem Rhein ist sie heute eine Reminiszenz an die Stimmung und den Luxus der großen Zeit der früheren Rheintouristik. Die Romantik auf dem Rhein erlebt damit eine Renaissance. Die auf dem Dampfer heute zu lesende Information: „Durch einen Bombentreffer wurde der Raddampfer am 3. März 1945 bei Oberwinter versenkt,“ war Anlass für den Verkehrs- und Verschönerungsverein Oberwinter-Rolandseck im Jahre 2003, dem 90-jährigen Geburtstag der „Goethe“ nach Restaurierung des Rastplatzes „Siebengebirgsblick“ durch Aufstellung einer Gedenktafel an die tragischen Ereignisse zu erinnern, die sich hier 1945 ereigneten.