Christian Ulrich:
Die Stunde Null war seine Zeit
Günther Schmitt
Wer ins Ahrweiler Kreishaus geht, kennt sie, die Galerie der Landräte auf dem Landratsflur. Dort hängen sie alle, die Porträts der ehemaligen Kreischefs aus Ahrweiler und Adenau seit der Gründung der Kreise am 14. Mai 1816. Alle? Nein, einer fehlte mehr als ein halbes Jahrhundert nach seinem dortigen Wirken immer noch. Und das fiel noch nicht einmal auf, denn die Jahreszahlen sind durchlaufend. Wer war also der „vergessene Landrat"?
1945 gab es neben dem abservierten Nazi-Kreischef Dr. Peter Simmer und dem ab August regierenden Hermann Schüling noch einen dritten Mann an der Spitze des AW-Landes. Christian Ulrich, neben Landrat von Gruben (1816 bis 1820) der einzige Kreischef, der in Ahrweiler geboren wurde. Sein Konterfei fehlte in der Galerie, in der auch der 1934 von den Nazis ermordete ehemalige Landrat von Adenau und in den 1930er Jahren Führer des katholischen Widerstandes, Dr. Erich Klausener, einen Ehrenplatz hat.
Ulrich (Jahrgang 1894) war Landrat vom 15. März bis 31. Juli 1945. Seine Ernennungsurkunde wurde von Captain Edmund H. Emry als Vertreter der amerikanischen Militärregierung unterschrieben. Ulrich, der noch im Kaiserreich seinen Beamteneid geleistet hatte, war bis zu diesem Tag Kreisoberinspektor in Ahrweiler und führte dann das Kreishaus. „Nicht ohne Erfolg", erinnert sich Richard Remshagen, damals Bürostift der Kreisverwaltung an den Menschen Ulrich, „der immer hart arbeitete".
In der Stunde Null lag alles danieder. Ulrich war es, der mit seinem kleinen Stab an der Wilhelmstraße im „vine-draped Kreishaus" – so wurde es von einem amerikanischen Soldatenmagazin beschrieben, als dort zu dessen Zeit der erste amerikanische Kriegsverbrecherprozess auf deutschem Boden stattfand – die Versorgung der Kreisbevölkerung in die Gänge brachte. Seine Sorge galt der Wiederherstellung der Lebensmittelversorgung, der Warenbeschaffung und ihrer Verteilung. Das würdigte auch 1969 beim Tode Ulrichs der AW-Landrat und spätere Regierungspräsident von Koblenz, Heinz Korbach. Kriegsschäden muss-ten beseitigt werden, Straßen und das, was man damals als Verkehr bezeichnen konnte, funktionieren. Es war Ulrich, der das Kreishaus wieder zu einer arbeitsfähigen Verwaltung machte, Kurierdienste zu den Bürgermeistern einführte und wöchentlich mit ihnen tagte. Und dabei ging es nicht um Banalitäten, denn die Amerikaner brauchten Platz – nicht nur zum Wohnen. Bis Ende Mai 1945 war der Kreis Ahrweiler übrigens völlig autonom. Die Einnahmen des Finanzamtes gingen direkt an den Kreis, der damit die Beschäftigten bei allen Behörden entlohnte. Es war zwar Sommer, aber Ulrich dachte auch schon an den Winter, der, wie es sich später zeigte, eisig werden sollte. Unter seiner Ägide wurde die Ahrtalstrecke wieder in Betrieb genommen, die Briketts für den Kreis konnten rollen. Und ins Rollen kam im Juni dann auch die überregionale Verwaltung bei der Bezirksregierung in Koblenz. Dort war Ulrich Mitglied der Landrätekonferenz, bis die Amis gingen und die Franzosen kamen.
Letztere gingen mit Ulrich, der nie Mitglied der NSDAP gewesen war, deutlich weniger nett um als die Amerikaner. Am 26. Juni wurde er vom Kommandanten der französischen Militärregierung verhaftet und im Kreishauskeller eine Woche lang unter Arrest gesetzt. Als fadenscheinige Gründe wurden die Nichtbeachtung von Befehlen und das Dulden von Wahlen in Amtsausschüssen angeführt. Anfang August folgte seine Absetzung als Landrat – eine für die Zeit typische Handlung, denn über das Wie und mit wem einer Verwaltung hatten die Alliierten stets getrennte Vorstellungen. „Am Zeug flicken" konnten sie Ulrich trotz Hausarrests und täglicher Meldung bis zum 15. Oktober 1945 nicht. Nein, sie brauchten sein Organisationstalent andernorts: Ab November als geschäftsleitender Beamter im Landratsamt von Zell. Doch er wollte zurück an die Ahr, ins Kreishaus. Seine Klagen gegen den Kreis und das Land Rheinland-Pfalz blieben jedoch ohne Erfolg und nicht einmal mehr Landrat a.D. durfte auf seinen Visitenkarten stehen. Eine Rückkehr Ulrichs wurde vom neuen Landrat als „inopportun" angesehen.
Während der Kreis sich also der Unfreundlichkeit gegenüber Ulrich anschloss, bauten die Ahrweiler Bürger auf ihn. Schließlich kannten sie ihn seit 1894 und somit besser als über ihn urteilende Verwaltungsjuristen, deren Lebensläufe hier nicht zur Debatte stehen. Fakt ist aber: Wer 1946 Richter war, muss es auch vorher gewesen sein. Und da waren die schwarzen Roben eher braun.
Christian Ulrich (1894-1969)
Am 17. Februar 1949 wählte der Stadtrat von Ahrweiler, dem er von 1928 bis 1933 angehört hatte, Christian Ulrich zum hauptamtlichen Bürgermeister. Er hatte entscheidenden Anteil an Wiederaufbau und Gestaltung der Stadt. Seine Wiederwahl 1957 war folglich reine Formsache. Als Ulrich 1959 in Pension ging, war er mehr als ein halbes Jahrhundert in der Verwaltung tätig und hatte einen Kenntnisschatz erworben, den er in allen Positionen und an allen Wirkungsstätten für seine Mitbürger einsetzte. So auch im Kreistag von Ahrweiler, wo der überzeugte Christdemokrat von 1956 bis 1960 für das eintrat, was er liebte: Seine Heimat.
Diese Liebe wurde nun, wenn auch spät gewürdigt. Dr. Jürgen Pföhler schloss als erster urgewählter Landrat die Lücke in der Ahnengalerie: „Landrat Christian Ulrich hat diesen Ehrenplatz verdient."
Die Situation nach dem Kriegsende im Kreis Ahrweiler beschreibt ein Artikel im Kölnischen Kurier, der von der Amerikanischen Armee am 9. April 1945 herausgegeben wurde.