300 Jahre St. Potentinus in Wehr
Die Abtei Steinfeld schuf 1702 diese bedeutende Barockkirche
Bruno Andre
Feierlich begeht die Pfarrgemeinde Wehr im Jahre 2002 das Jubiläum ihrer dem hl. Potentinus geweihten Pfarrkirche. Denn am 15. Oktober 1702 erhielt das neue, barocke Kirchenschiff seine kirchliche Weihe durch den Erbauer, Abt Michael Kuell aus der Prämonstratenser Abtei Steinfeld/Eifel, unter Assistenz des Abtes Engelbert Collendahl von Bendorf-Sayn und des Abtes Josef Denz aus der benachbarten Abtei Maria Laach.
Werfen wir einen Blick auf die Geschichte der Kirche.
Als im 5. Jahrhundert die Franken das Rheinland erobert hatten, entstand in dem fruchtbaren Wehrer Talkessel zwischen zwei untergegangenen römischen Siedlungen ein typischer fränkischer Großhof, der möglicherweise im Besitz des Merowingergeschlechtes war. Bei diesem Hof entwickelte sich im Laufe der Zeit in östlicher Richtung das Dorf Wehr. Südlich aber errichtete man im Garten dieses Gutes die dem hl. Martin geweihte Hofkapelle. Aus ihr ging durch alle Bauphasen der nächsten 1500 Jahre die heutige Kirche hervor, die allerdings seit einigen Jahrhunderten den hl. Potentinus als Pfarrpatron hat. Die Wehrer Kirche war so, historisch bedingt, nie Mittelpunkt des Dorfes, sondern, am Rande gelegen, ursprünglich Anhängsel des riesigen Hofgutes, welches heute als „die Kellerei” noch unübersehbar das Dorfbild mitbestimmt.
Um 900 war Sibodo Besitzer des Hofes und Dorfes Wehr. Als er 920 das Benediktinerkloster Steinfeld bei Urft/Kall in der Eifel gründete, schenkte er seinen ganzen Besitz in Wehr diesem Kloster, welches 1126 in ein Prämonstratenser-Chorherrenstift umgewandelt wurde. 900 Jahre lang (bis zur Säkularisation 1802) gehörte Wehr nunmehr dem Kloster Steinfeld und waren dessen Prämonstratenser-Äbte die Herren über das Dorf, die auch die Gerichtsbarkeit ausübten.
Außenansicht der Wehrer Kirche
Um 1230, in der Spätphase der Romanik, erbaute das Kloster Steinfeld in Wehr eine neue, steinerne Kirche, deren Turm heute noch steht und schon fast 800 Jahre in majestätischer Ruhe über das Wehrer Tal blickt. Seine beiden unteren Geschosse sind fast völlig geschlossen und vermitteln dadurch einen recht wehrhaften Eindruck, während das dritte Turmgeschoss lisenengerahmte Rundbögen und Rundfenster mit wechselnder Scheitelverzierung aufweist. Im vierten Turmgeschoss befinden sich auf jeder Seite je zwei gekuppelte Fenster mit Mittelsäule. Das Giebelgeschoss erreicht durch ein gekuppeltes Drillingsfenster eine Rhythmisierung der Fensterelemente. Ein Rundbogenfries durchklettert die Steigungen dieses Dreieckgiebels.
Barocke Prachtentfaltung im Innern der Wehrer Kirche
Das barocke Kirchenschiff
Ein seit längerer Zeit geplanter Neubau des Kirchenschiffes musste im 17. Jahrhundert infolge Kriegseinwirkungen, Unruhezeiten und Brandkatastrophen jahrzehntelang verschoben werden. Als man ab Februar 1700 den alten Bau abriss (…totaliter ruinosam!) und bis zur Konsekration am 15. Oktober 1702 den Neubau durchführte, war inzwischen eine Änderung des Stilempfindens eingetreten. Wohl begründet durch die persönliche Freundschaft des Steinfelder Abtes Norbert Horrichem mit dem päpstlichen Nuntius Fabio Chigi, der später als Papst Alexander VII. selbst den Stuhl Petri bestieg und einer der letzten großen Kunstmäzene der Barockzeit wurde, hatte die Prämonstratenser-Abtei in der Eifel sich für deutsche Verhältnisse schon extrem früh der neuen Barockkunst zugewandt. So wurde ein noch vorhandener gotischer Kirchenentwurf in der Außengestaltung deutlich sichtbar .,barockisiert”: z.B. erhielten die Strebepfeiler barock-geschweifte Abschlüsse; und vier helle Tuffsteinbänder geben dem Bau eine für diese Stilrichtung typische Horizontalgliederung.
Das Innere des Bauwerkes hat dagegen noch einen gotischen Höhendrang. Die Betonung der Vertikale sowie die eigentlich gotischen Gewölberippen geben noch nicht die Formensprache der neuen Kunstrichtung wieder.
Der Inneneinrichtung aber kam zugute, dass die Abtei Steinfeld seit Jahrzehnten eine eigene große Barockwerkstatt besaß, in welcher der 1645 hier in Wehr geborenen Laienbruder Michael Pirosson der überragende Künstler war. So schuf man denn ein aus drei Altären bestehendes Ensemble, in dem der Hochaltar über zehn Meter Höhe erreicht und dessen Seitenaltäre nur geringfügig kleiner sind. Es sind zweigeschossige Säulenaltäre in ausgewogener Harmonie ihrer mächtigen Säulen und Gesimse. Reiches Dekorwerk in Form von Akanthus- und sonstigem Blattwerk vereinigt sich in kostbarer Vergoldung mit dem warmen Holzton der Säulen und des Gebälks zu herrlichem Farbakkord. Ergänzt durch die Weißfassung der vielen Heiligenfiguren, die da in lebhafter Gebärde und in bewegten Gewändern das Raumbild wesentlich bestimmen.
Der Hauptaltar hat über dem Drehtabernakel ein auswechselbares Hauptbild (Geburt Jesu, Kreuzabnahme, Auferstehung). Zu Seiten des Tabernakels stehen in Lebensgröße in lebhafter Gebärde die Apostelfürsten Petrus und Paulus. Im Obergeschoss ist ein Gemälde der Himmelfahrt des Herren; seitlich davon Statuen der Kirchenpatrone St. Martin und St. Potentinus. Bekrönt wird der Hochaltar von einer Christus-Salvator-Figur mit der Weltkugel. Hat barocke Kunst zumeist eine auf Fernsicht berechnete Gestaltung, so gibt es in den Sockelfeldern der großen Säulen hervorragende szenische Reliefs, die allerdings nicht auf Fernsicht gestaltet sind: Hier sind in virtuoser Holzschnitztechnik Szenen aus der Kindheit Jesu dargestellt.
Der Marienaltar zeigt als Hauptgemälde die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel. Die sie umgebenden Scharen größerer und kleinerer Engel tragen verschiedene Sinnbilder Mariens aus der lauretanischen Litanei (du geheimnisvolle Rose; du Spiegel der Weisheit; du elfenbeinerner Turm etc.). Das ovale Gemälde im Obergeschoss zeigt die Krönung der demütig knienden Gottesmutter durch die Allerheiligste Dreifaltigkeit. Als Altarbekrönung sehen wir eine Skulptur der Gottesmutter mit dem Jesuskind. Maria ist jung und schön in kostbarem Gewand und mit einer Krone dargestellt. Neben dem Hauptgemälde: Statuen des hl. Josef mit dem Jesuskind, welches sich von seinem Arm freudig zum Kreuze wendet, und auf der anderen Seite der hl. Hermann-Josef, der große Heilige der Abtei Steinfeld, ebenfalls mit dem göttlichen Kind. Im Obergeschoss rechts die Statue des Kirchenlehrers St. Augustinus, auf den auch die Regeln des nach ihm benannten Augustiner- Ordens zurückgehen. Der hl. Norbert, auf der anderen Seite dargestellt, entwickelte diese Regeln weiter zur Prämons-tratenser-Ordensregel (dargestellt mit der Monstranz; auf den Ketzer Tanchelm tretend).
Der Potentinusaltar hat zwei austauschbare Hauptgemälde: Eine Darstellung des Kirchenpatrons St. Potentinus (stilistisch unpassend, von 1884) sowie eine Darstellung der „Beweinung Christi”. Das ovale Gemälde im Obergeschoss zeigt Christi Tod am Kreuz. Eine „Todesangst-Christi-Bruderschaft”, welche in Wehr zur Erbauungszeit der Kirche viele Mitglieder hatte, bewirkte die Ausarbeitung des Altares als „Leidensaltar’”: Engel und Putten halten die Marterwerkzeuge der Kreuzigung, wie Hammer, Zange, Geißelsäule etc. Weitere Figuren im Untergeschoss: St. Matthias und die hl. Barbara, als Patronin der Bergleute, denn in Wehr besaß die Abtei Steinfeld einst eine große Eisenhütte. Als Bekrönungsfigur sehen wir den Engelfürsten St. Michael als Seelenwäger. Vielleicht haben sich der Künstler Michael Pirosson und der residierende Abt Michael Kuell in typischer barocker Art verewigt.
Die Reihe der zwölf Apostel beherrscht nach den Altären den ganzen Raum: In Lebensgröße, zumeist in lebhafter Bewegung und bewegten Gewändern, stehen sie an den Pfeilern und (umgestellt) unter der Empore. Man beachte die Ausarbeitung solch feiner Details wie der Sehnen und Adern auf den Handrücken und dem Halse. Zu der Reihe gehören natürlich Petrus und Paulus auf dem Hochaltar.
Engel und Putten, große und kleine (Flügelspannweite von 200-14 cm), finden sich über-all auf Decken und Wänden und vor allem auf den Altären. Sie wirken ernst und feierlich als Posaunenbläser, stützen mit angestrengten Muskeln das Altargebälk, albern lustig in Blumengirlanden und lächeln holdselig ins Publikum.
Das Dekorwerk ist in dieser Kirche fast nur von vegetabiler Art: Blumen, Blüten, Ranken, Girlanden, Ähren, Weintrauben, Akanthus etc.. Nur an den Rahmen der Hauptgemälde auf den Nebenaltären findet sich barockes „Ohrmuschelwerk“.
Die Qualität der künstlerischen Arbeiten wird an vielen Details deutlich: Putten mit Blumengirlanden.
Die Kanzel kam erst 1738 in die Kirche: Die Figuren der Evangelisten am Kanzelkorb und der Kirchenlehrer sind von guter künstlerischer Qualität. Dagegen erreicht alle andere Holzarbeit nicht mehr den Rang der übrigen Kunstwerke in der Kirche – immerhin war Bruder Michael Pirosson schon einige Jahre tot. Offensichtlich hatte er keine gleichwertigen Nachfolger mehr gefunden.
Qualitätsvoller Putto, der das Altargebälk stützt.
Verwiesen sei noch auf den barocken Taufstein aus Urfter Marmor und auf das große Kruzifix, welches jetzt vor dem Marienaltar steht: Es ist ein spätgotischer Korpus, dessen Lendenschurz in der Barockzeit ergänzt wurde, mit jüngst erneuerten Kreuzbalken. Vielleicht stammt dieses Kreuz aus der Vorgängerkirche, wie auch eine „Madonna mit Kind“ etwa von 1350-1400; eine Anna-Selbdritt, um 1450; eine Potentinus-Figur aus dem 15. Jahrhundert und auch noch eine weitere barocke Madonna von hoher künstlerischer Qualität, welche in der Gestaltung der Bekrönungsfigur des Marienaltares recht nahe kommt.
Würdigung
Insgesamt hat die St. Potentinus-Kirche die 300 Jahre ihres Bestehens in erstaunlicher Stilreinheit überstanden. Nur „wenige Zutaten” aus dem 19. Jahrhundert sind zu verschmerzen, und einige bereits erwähnte ältere Kunstwerke stören nicht den barocken Gesamteindruck.
Bruder Michael Pirosson (1645-1724), der auch die Barockausstattung der Steinfelder Basilika und vieler anderer Kirchen schuf, hat für seine Heimatgemeinde wohl alle Möglichkeiten genutzt, die ihm gestattet wurden. Sicher war es der kunstsinnige Abt Michael Kuell, der das ganze ikonologische Programm des neuen Gotteshauses bestimmte, ein Programm, welches in vielen Dingen von den Auseinandersetzungen mit den Protestanten in der Gegenreformation bestimmt wurde. Selbst die Vielzahl der Heiligen- und Engelfiguren in diesem Kirchenraum ist Ergebnis solchen theologischen Disputes über die Rechtfertigungslehre. In der Spätphase des Barock verminderte sich die Zahl der dargestellten Heiligen bereits wieder deutlich!
Wie schon erwähnt, wandte man sich im Kloster Steinfeld in der Eifel – einer ansonsten eher kargen Kunstlandschaft – schon sehr früh der neuen Kunstrichtung des Barock zu, welche in Deutschland sehr spät Fuß fasste. Als man z.B. in Steinfeld die romanische Basilika mit einer triumphalen Barockausstattung versah, war von den größten Künstlern des deutschen Barock (z.B. Dominikus Zimmermann, Balthasar Neumann, Gebrüder Asam) überhaupt noch niemand geboren! Und als im Oktober 1702 in unserem kleinen Dörfchen Wehr von damals knapp 50 Häusern diese Kirche mit ihrer Altargruppe und den gewaltigen Apostelfiguren eingeweiht wurde, da war noch keiner der genannten Künstler älter als 15 Jahre!
Das Dorf Wehr hätte sich ein solch künstlerisches Kleinod niemals leisten können. Es war die mächtige Prämonstratenser Abtei Steinfeld, welche die finanziellen Mittel zu solcher Gestaltung aufbringen konnte, die in Bruder Michael Pirosson und weiteren Mitarbeitern über eine bedeutende Barockwerkstatt verfügte – und die in Michael Kuell einen Abt hatte, dessen künstlerisch hoher Sinn den Bau dieser Kirche ermöglichte.
Literatur:
Bruno Andre: Die Pfarrkirche St. Potentinus in Wehr. Eine frühbarocke Schöpfung der Prämonstratenser-Abtei Steinfeld/Eifel. Wehr 1997.