Kurt Gratzel –

Ein gegenständlicher Maler

Johannes Friedrich Luxem

Ein Wort zuvor

Es gibt ein Bild von Vincent van Gogh aus dem Jahre 1888: „Der Maler auf der Straße nach Tarascon". Auf dem Weg zu seinem Motiv trägt der einsame Wanderer alles was er benötigt mit sich, auf dem Rücken die Feldstaffelei mit den Ölfarben, Tusche, Kohle, Rötel. Unterm linken Arm hält er die Leinwand, in seiner Rechten einen Beutel Proviant.

So oder in ähnlicher Weise konnte man den Maler und Graphiker Kurt Gratzel noch vor kurzer Zeit sehen, wie er, beladen mit den Malutensilien, auf einsamen Wegen in der Vulkaneifel, im Ahrtal, an Rhein und Mosel auf der Suche war nach seinem Motiv. Dabei spielten Sonne, Sturm, Regen, Kälte, Eis und Schnee für den rüstigen Wanderer keine Rolle. Seine Tafelbilder entwarf er stets vor Ort, draußen in der freien Natur. Hier fing er Stimmung und Licht derLandschaft zu allen Tageszeiten und im Jahreskreislauf ein.–

Im Kreis Ahrweiler – und weit darüber hinaus – ist Kurt Gratzel verallgemeinernd als ein „Eifelmaler" bekannt, Weggefährte und Nachfolger berühmter Namen, wie Fritz von Wille, Curtius Schulten, Pitt Kreutzberg, Prof. Wilhelm Peiner, Konrad Schäfer, Hanns Altmeier, Theo Busch, Rolf Dettmann und vieler anderer.

Doch: Vorsicht vor raschen Verallgemeinerungen! Bei einer Würdigung seines Lebenswerkes kommen andere, vielschichtige und wechselvolle Seiten der künstlerischen Arbeit Kurt Gratzels zum Vorschein.

Werdegang

Vielseitig und wechselhaft verlaufen seine biographischen Daten. 1921 als Sohn eines Musikers in Danzig geboren, wird er nach seiner Gymnasialzeit Kunstschüler bei Professor E. Pfuhle, studiert bei ihm Zeichnen nach der Natur und nach Modell, Malerei, Portrait- und Aktzeichnen. Nach 5 Jahren Militärzeit kommt er 1951 aus der Gefangenschaft, wird unter dem Zwang der Verhältnisse Bergmann unter Tage.

Bis 1954 macht er in Adenau eine Lehre als Anstreicher, lernt den Maler Ernst Kley kennen, wird Mitglied der Are-Künstlergilde und nimmt bereits an zahlreichen Ausstellungen teil. Er studiert in der Folge an den Werkkunstschulen in Trier und Köln, erhält Anregungen von M. Welsch und Professor Otto Gerstner in Zeichnen, Illustration, Wandgestaltung, Aktzeichnen und Ölmalerei. In den Jahren 1959 bis 1963 lebt Kurt Gratzel in Paris und der Ile de France. Er malt hier vor allem Portraits, studiert Aktzeichnen an der Academie Julien und der Grande Chaumiere. Seit 1963 ist er als freier Maler und Graphiker tätig, nimmt an zahlreichen Ausstellungen der Are–Gilde und des Berufsverbandes Bildender Künstler im Rheinland und Ruhrgebiet teil.–

Von Adenau, wo er Jahrzehnte lebte und arbeitete – auch als Dozent für französische Sprache und Literatur – zog er um an die Ahr. Er lebt und arbeitet in seiner „Kirschbaum–Atelier–Galerie" in Walporzheim am Ufer des Flusses, der eine wildromantische Landschaft prägt. Als Senior der heimischen Are-Gilde erfährt er die Hochschätzung von Präsident Professor Dr. Kreutzberg und aller Mitglieder, gleich, welche Stilrichtungen sie vertreten.

Es darf angenommen werden, dass Vielseitigkeit, Stil, Mo- tivwahl und Ausdruckskraft seines künstlerischen Lebenswerkes mit seiner Biographie in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen.

Der Maler Kurt Gratzel an der Staffelei im Atelier

Paysage Intime

Vor über hundert Jahren wurde dieser Begriff der „schlichten, intimen Landschaft" in der Künstlerkolonie von Barbizon in der Nähe von Fontainebleau geprägt.

Während seiner Frankreichjahre lernte Kurt Gratzel die Werke dieser Freiluftmaler, die Pleinair–Malerei, in den grossen Museen kennen und schätzen.

Man darf sagen, dass er das Licht, das Leuchten in seinen Bildern als eine unverlierbare Erinnerung an die Zeit in der Ile de France mitbrachte in die herbe Eifellandschaft.

Die Vertreter der Pleinairmalerei, deren Werke heute Weltruhm besitzen, schätzt der Maler nach wie vor: Ch. F. Daubigny, Th. Rousseau, J. F. Millet, J. Dupree, C. Corot und Andere. So wie sie malt Gratzel seine Bilder im Freien, fängt in seinen Farben die Atmosphäre ein, das diffuse Licht, die Landschaft…

Kurt Gratzel wurde zu einem Vertreter der Freiluftmalerei, arbeitet unmittelbar vor Ort. In seinen Motiven – sorgsam ausgewählt – erfasst und schildert er den spezifischen Charakter der Landschaft, macht in seinen Bildern die Farben zu seinem Elixier.

Lichtwirkungen und Schatten stellt er gegenüber, malt die Reflexe, die Veränderungen bei Wald, Wiesen, Hecken, Felsen, Wegen, Brücken, alten Gehöften und Kapellen im wechselnden Licht des Tages. Den sich im Licht auflösenden Formen stellt er Konturen gegenüber, fixiert den einen, günstigen, nicht wiederkehrenden Augenblick, malt das Unmittelbare.

So erzielt er lebendige Wirkungen, erzeugt eine oft lyrisch anmutende, manchmal melancholische Grundgestim­mtheit. Dabei zeigt er seine Eifel– und Ahrlandschaften weniger in einem dramatischen Gestus als vielmehr verhalten, ohne unnötige Effekte oder Staffagen.

Diese Bilder legen Zeugnis ab von Einsamkeit und Stille, vermitteln eine beruhigende Stimmung, ein Quentchen jener Weltverlorenheit, ähnlich den Bilderzyklen der Worpsweder Maler.

Intensiv beschäftigt sich der Maler mit den Wirkungen des Lichts in der freien Natur zu den wechselnden Tages– und Jahreszeiten und den dadurch bedingten Veränderungen der Landschaft. In Paris besuchte Kurt Gratzel immer wieder die großen Museen, lernte die berühmten Werke der Maler des Umbruchs, der Moderne, – Impressionisten, Fauvisten etc. kennen, die nach dem Hohngelächter der Masse um die Jahrhundertwende später Weltruhm erlangten; Monet, Cezanne, van Gogh, Renoir, Sisley, Pissaro, Toulouse-Lautrec, Rouault, B. Morisot, O. Redon und viele der Großen der modernen Kunst.

Darüber hinaus beschäftigte er sich mit der französischen Sprache, lernt die großen Literaten des XIX. Jahrhunderts in ihren Werken kennen, schätzt besonders Balzac, Zola, Maupassant und Baudelaire… Mit seinen Malerfreunden reist er zu den Stätten, an denen die Pleinairmalerei ihre Glanzzeit erlebte: Barbizon, Marly, Bougival, Louveciennes, Argenteuil, Giverney. – In den Museen, an den Malerorten der Ile de France empfängt er tiefe, nachwirkende Eindrücke, die sein weiteres Schaffen beeinflussen werden. Doch nie hat sich Kurt Gratzel solchen Prägungen untergeordnet. Er bleibt stets auf der Suche nach seinem ureigenen Stil, nach Darstellungsformen, denen er bis heute treu blieb und deren Gültigkeit er in der ihm eigenen konsequenten Weise vertritt. –

Stil

Von A. Sisley stammt der poetische Ausspruch, dass der Himmel mit den wechselnden atmosphärischen Erscheinungen der große Bruder derLandschaft sei.

Dies beherzigt Kurt Gratzel in seinen Bildern. Stets sind seine Horizonte unmittelbarer, untrennbarer Teil der Landschaft; beides verbindet er zu einer künstlerischen Einheit. Wenn man seine Bilder „naturalistisch" nennt, wird man ihm nicht gerecht, selbst wenn er sich als „gegenständlichen" Maler bezeichnet. –

Doch, seine Bilder sind mehr als eine bloße Wiedergabe der greifbaren Wirklichkeit. Es sind Landschaften, Stilleben, Portraits voller Harmonie durch Farbwahl, Licht, Stimmungsgehalt mit einer überhöhten und verwandelten Wirkkraft, die über kruder Realität steht.

Diesen „Gratzel-Stil" findet man auch wieder in seinen Aquarellen, Gouachen, in Tusche-Rötel- und Federzeichnungen und in seinen Graphiken. Konsequent, wie er ist, bleibt er dem Gegenständlichen verhaftet, ist, wie er zu sagen pflegt, sich selbst treu.

Dies verleiht dem künstlerischen Gesamtwerk Kurt Gratzels Wert und bleibende Gültigkeit.

Zu seinem Stil gehört, dass er auf unnötiges, zierendes Beiwerk, auf Staffagen verzichtet, auch auf die Belebung seiner Landschaften durch Personen oder Handlungsschilderungen.

So wirken die Landschaften für sich allein, sublime Reflexe der Farben zeigen entgegen formauflösenden Tendenzen eine Verdichtung des Farbgefüges, das geprägt wird durch Kontraste. – Häufig arbeitet er mit einem pastosen Farb-auftrag, hebt Strukturen des Lichtes hervor, bringt Atmosphäre in seine Gemälde, vor allem bei seinen Winterbildern und den Waldinterieurs. Die Winterlandschaften weisen eine eigene Ausstrahlung auf. Auch sie sind - oft bei bitterer Kälte und bei Schneetreiben – draußen, in der freien

Natur entstanden, später im Atelier vollendet. Die Entwicklung des in langen Jahren gefundenen Gratzelschen Malstils vollendet sich in diesen Landschaftsbildern, in denen Realität erhöht erscheint – nicht als Idylle oder pure Romantik – sondern durch eine subtile, poetisch anmutende Aussage.

Einsamkeit und Stille

Kann man Stille malen? Welche Frage! Man muss nur die Landschaften Kurt Gratzels betrachten und sie geben uns eine Anwort.

Dies gründet in einer langen Suche des Malers nach einem Motiv, einem verborgenen Ort, der wie ein Symbol wirkt für Weltverlorenheit, Einsamkeit – und Stille.

Ein Ort, fern von der unaufhörlichen Geräuschkulisse un­serer hektischenZeit.

Hier gilt ein Wort Picards aus seinem Buch „Die Welt des Schweigens" über die Vertreibung der Stille: „Wie uns das Leben unter der akustischen Glocke noch um unsere Sinne bringt!" Ähnliches gilt für eine pausenlose Bilderflut moderner Medien in einer rationalisierten, entzauberten Welt.

All dem setzt der Maler Kurt Gratzel seine Bilder entgegen; sie werden gleichsam zu einer Gegenwelt zu den Phänomenen unserer Epoche, zu einer „domaine enchantée", zu einer zauberhaften, verwandelten Region.

Sie strahlen wirklich Stille aus, die den Betrachter über die Wertschätzung des Ästhetischen hinaus innehalten lassen, ihn zurückführen zu sich selbst.

Doch, es ist offenbar, dass hinter solch poetischen Bildern auch Melancholie spürbar wird und ein Ringen – vieleicht ein Leiden – beim Entstehungsprozess, bei der formalen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Erkennbar wird im Gesamtwerk Gratzels eine Antinomie zwischen zwei Polen seiner Künstler- existenz: Flucht und endliche Heimkehr. –

So werden seine bevorzugten „Hangbilder", die Wege an Waldrändern und Wiesenrain wiedergeben gleichsam zu einer Metapher für den Gegensatz zwischen noch sichtbarer Wirklichkeit und dem nicht mehr Erkennbaren, der geheimen Welt hinter der Wegekrümmung…

Eifellandschaft im Winter, Ölgemälde von Kurt Gratzel

Man weiß nicht, wo der Wanderer hinstrebt, wo sich sein Ziel befindet. DerMaler provoziert das Offenlassen einer Frage ohne Antwort, drückt symbolhaft Sehnsucht aus nach dem Unerfahrbaren.

Nur schwer lässt sich Gratzels Bilderwelt in die Rubriken der vielen „Ismen" der Postmoderne einordnen; sie entzieht sich solchen Festlegungen. Wohl dominiert in seinem Gesamtwerk eine romantisch– lyrische Komponente, doch es werden – vor allem in seinem umfangreichen graphischen Werk – auch die Gefährdungen durch Dunkel und Geheimnis erkennbar. – Kein Capriccio sind seine Bilderzyklen, keine Versatzstücke; Gratzel strebt stehts Ehrlichkeit an, er reduziert das Stoffliche, lässt den Betrachter jene Harmonie erleben, um die er stetig ringt. –

Punkte Linie Striche: Graphik

Außer der Malerei von Öl–, Aquarell– und Gouachebildern hat sich Kurt Gratzel mit graphischen Techniken be-fasst; sie stellen gleichsam eine andere Seite, einen anderen Teil seines Wesens dar. Es geht dabei um eine alte, technisch schwierige Kunst, die handwerkliches Können verlangt, die unter Verzicht auf Farbigkeit das Zeichnerische, die Linien und Striche, rein graphische Elemente verlangt.

So gibt es in Gratzels Werk ganze Serien von Ätz– und Kaltnadelradierungen, Arbeiten mit den Techniken Vernis mous, Aquatinta und Schabkunst, die vor allem die schöpferische Vielseitigkeit des Künstlers belegen. Durch eine bewusst niedrig gehaltene Auflagenzahl erhöht Gratzel den Originalwert seiner Druckgraphiken. Er schuf insbesondere Ätznadelradierungen, die durch ihren temperamentvollen Gestus der Linienführung den oft herben, düs-teren Charakter der Eifellandschaft eindrucksvoll wiedergeben. Es sind graphische Arbeiten von besonderem Reiz, die den Kontext bilden zu seinen Gemälden.

Den schönen, alten Städten seiner ostpreußischen Heimat widmete der Künstler eine besondere Serie. Es sind Vedouten, Panoramabilder, stille, verträumte Winkel – insgesamt liebevoll gestaltete Erinnerungen an seine Jugendzeit in Danzig, Masuren, Samland.

Die Kunst des Weglassenkönnens wird deutlich in einer Reihe von Kaltnadelarbeiten, die Tiere darstellen. Lebendigkeit in der Wiedergabe macht den Reiz dieser Arbeiten aus. Mit sparsamer Linienführung dringt hier der Graphiker vor zum Wesentlichen.

Bei allen graphischen Blättern – welch eine Fundgrube für den enthusiastischen Sammler – handelt es sich um Handabzüge, die Gratzel auf seiner großen Presse selbst herstellte.

Gerade hier, in der zwangsläufigen Beschränkung der Schwarz–Weißarbeiten zeigen sich handwerkliche Präzision und zeichnerische Begabung des kundigen Graphikers. –

Heimat

Der Philosoph Eduard Spranger schreibt:

„In dem Heimaterlebnis schwingt auch etwas tief Religiöses mit, auch bei dem, der es sich nicht eingestehen will, und, wenn wir von jemandem sagen: Er habe keine Heimat, so ist das ungefähr soviel, als ob wir sagten: Sein Dasein habe kein Mittelpunkt".

Der Künstler Kurt Gratzel hat diesen Mittelpunkt, seine Seelenheimat gefunden. Nach vielen Jahren, Reisen, Erlebnissen, nach zähem Ringen und Arbeiten lebt er am Ufer der Ahr, schafft neue Werke in seinem hellen Atelier, dem er den poetischen namen „Kirschbaumatelier" gegeben hat.

In seinem Garten steht ein alter Kirschbaum, Sinnbild von Schönheit und einer immer wiederkehrenden Fruchtbarkeit der Natur, die Kurt Gratzel so liebt und für deren Erhaltung er sich intensiv einsetzt.

Hier stellt er seine Werke aus, veranstaltet Vernissagen und musikalische Abende mit seinen Freunden eines städtischen Kammermusikkreises, lässt sich inspirieren durch die Klänge von Bach, Händel, Mozart, Debussy, sieht den grünen Wall der nahen Ahrberge, die Rebenhänge; über dem Tal kreisend Milane.

Hier findet er sein erträumtes Naturerlebnis, malt seinen „Sommernachtstraum" und vielleicht fügen sich hier die Verse der Dichterin Christine Busta verbindend ein:

Tage wie Vögel und locker wie junges Haar.
Auf den Stufen hüpft Regen und malt seine flüchtigen Zeichen.
Er spielt mit der Sonne. Bald wird sie dein Fenster
erreichen
und steigt dir ins Zimmer, das lange voll Schatten war…