Das Jugendstilhaus Niederhutstraße 61 in Ahrweiler

Hans Warnecke

Von seinem Vater hatte der jüdische Kaufmann Joseph Heymann das seit 1862 im Familienbesitz befindliche Textilgeschäft geerbt. Zu diesem Erbe gehörte auch seit 1876 das Grundstück nebst einem dort stehenden Geschäftshaus in der Niederhutstraße 61.1) Josep Heymann war als Kaufmann so erfolgreich, daß er am 20. Juni 1906 an das Bürgermeisteramt in Ahrweiler schrieb, „daß ich mein in der Niederhutstraße belegenes Geschäftshaus nebst Anbau abbrechen und neu bauen werde,“2) um so für das Geschäft und die Familie mehr Platz zu haben.

Aus dieser Mitteilung ist nicht zu ersehen, daß es sich hier um ein bemerkenswertes Baugesuch handelt. Erst der bereits zwei Tage vorher eingereichte Bauantrag des Architekten Carl Eder aus Bonn verdeutlichte, daß mit diesem Neubau in der zentralen Straße von Ahrweiler ein völlig neues Stilelement Einzug halten sollte, wie es vorher in dieser von der Historie geprägten Stadt noch nicht vorhanden gewesen war. Zu-nächst zeigte der beiliegende Bauplan, daß dieses 12 Meter hohe Haus mit einem Erdgeschoß, der 1. und 2. Etage sowie einem Dachgeschoß ausgestattet sein sollte, sich also in der Raumaufteilung nicht von den angrenzenden Nachbarhäusern unterscheiden würde. Aber die Gestaltung der Fassade brachte etwas völlig Neues nach Ahrweiler, nämlich das erste Haus im Jugendstil.

Wenn heute in der Kunstgeschichte diese Stilrichtung der kurzen Epoche zwischen 1894 und 1914 den Namen Jugendstil trägt, so ist damit eine Re- formbewegung der Architektur, der Malerei und Skulptur gemeint, „die dem Leben mehr Schönheit und Stil verleihen wollte.“3) Gerade weil es im Jahr 1906 für diese Stilrichtung nur in den westlichen Hauptstädten Europas Beispiele gab, ist es umso beachtlicher, daß in der von der Tradition bestimmten Stadt Ahrweiler ein Bauherr den Mut aufbrachte, den beauftragten Architekten diesen neuen Weg gehen zu lassen. Hier hatte Joseph Heymann das Selbstbewußtsein, sich als wohlhabenden Bürger zu erkennen zu geben, der nicht nur Geschmack, sondern auch Vermögen genug besaß, um diesen neuen Stil zu realisieren. Wenn die heute allgemein gültige Definition richtig ist, daß dieser Stil „gerade Linien und den rechten Winkel ablehnt, ornamentale, vegetabile und florale Formen bevorzugt,“4) so trifft das auf das Haus in der Niederhutstraße 61 ohne Einschränkung zu. Und auch die bei diesem Anwesen nach außen hin erkennbare Verwendung von Buntglas und Metall, Farbe und Dekor, Gliederung und Proportion, schwellenden und ineinander verknoteten Bändern läßt es gerade in der von Franz Ulrich im Jahr 1986 aufwendig durchgeführten farblichen Neugestaltung der Fassade bis heute als ein reines Jugendstilgebäude erscheinen. Diese Restaurierung war so gelungen, daß die Stadtverwaltung im Jahr der Renovierung die-sem Haus in Ahrweiler den 1. Preis im Fassadenwettbewerb zuerkannte.

Die Zeichnung des Architekten Carl Eder zeigt, wie bewandert er mit den Jugendstilbauten seiner Zeit gewesen ist. Denn das im Jahr 1900 in Brüssel fertiggewordene Palais Solvay von Paul Hankar war ganz ohne Zweifel das Vorbild für seinen Entwurf.5) Auch in der Niederhutstraße 61 gilt, was über den belgischen Mitbegründer der Jugendstilarchitektur gesagt wird: „Er vereint zweckmäßig-klare Gliederung mit schmückenden Art-nouveau-Formen, die dem Bau Rhythmus und Leben geben.“6) Leider ist nicht bekannt, wie die Bevölkerung Ahrweilers nach der Fertigstellung des Neubaus im Jahr 1907 reagierte. Auf jeden Fall hatte Joseph Heymann mit seinem Architekten Eder und dem Ahrweiler Maurermeister Braun ein Domizil geschaffen, mit dem er jedem Käufer und Besucher den Eindruck vermitteln konnte, daß sie ein Geschäft betraten, das so modern war wie die angebotenen Kleidungsstücke. Der im Juni des Jahres 1907 eingereichte Bauantrag7) für den hinter dem Haus geplanten Anbau eines Wirtschaftsgebäudes und Toiletten mag heute überraschen. Aber damals waren die sanitären Anlagen auch in Neubauten durchaus nicht immer integriert.

Schon bald gehörte dieses Haus zum Alltag der Kleinstadt, weil sich die Eheleute Joseph Heymann trotz ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Minderheit wegen ihrer Freundlichkeit und Kompetenz der Wertschätzung der Bürger erfreuten. Und auch ihr Sohn Moses Heymann ließ keinen Zweifel an der damals im Kaiserreich erwarteten nationalen Gesinnung aufkommen. Er wurde im 1. Welt-krieg an der französischen Westfront ausgezeichnet und zum Leutnant befördert.8) Nach seinem Tod am 7.6.19309) führte zunächst seine Frau das Geschäft alleine weiter.

Das aber gestaltete sich zunehmend schwieriger, weil mit dem Jahr 1933 auch in Ahrweiler die antijüdische, nationalsozialistische Propaganda begann. Frau Heymann hatte bei einem Boykottaufruf im April des gleichen Jahres den Mut, die Uniform ihres verstorbenen Mannes ins Schaufenster zu stellen, um so zu demonstrieren, daß an ihrer deutschen Gesinnung nicht zu zweifeln sei.10). Dennoch zeigte die Propaganda Wirkung, denn bereits einen Monat später wurde Frau Heymann „in der Sitzung des „Vaterländischen Frauenvereins vom Roten Kreuz“ aus diesem Verein ausgeschlossen“11), dem sie seit 1925 angehört hatte. Es ist deshalb nur zu verständlich, daß sie angesichts der sich zuspitzenden Situation keine Investitionen für Renovierungen mehr vornehmen ließ, und sich bei ihr immer stärker der Wunsch abzeichnete, ihr Anwesen möglichst bald zu verkaufen. Aber das konnte erst nach für sie mühsamer Suche 1938 realisiert werden, als Herr Wilhelm Busch sen. am 23.3. den Kaufvertrag mit ihr unterzeichnete, um in der Niederhutstraße 61 ein eigenes Textilgeschäft aufzubauen. Das bedarf besonderer Erwähnung, weil damit ein privatrechtlicher Vertrag zustande kam, der ein Jahr später nach dem Gesetz über „die Entjudung der Städte und Dörfer im deutschen Reich“ nicht mehr möglich gewesen wäre. Frau Heymann kam so noch in den Genuß des Verkaufserlöses und nutzte die ihr damit gegebene Möglichkeit, vor Beginn des Krieges nach Jerusalem auszuwandern.

Bauzeichnung des Jugendstilhauses Heymann, 1906

Der neue Besitzer sah sich allerdings gezwungen, im Hinblick auf den Zustand des Gebäudes in den folgenden Jahren große Renovierungen vorzunehmen, die mehr als 60 % der Kaufsumme ausmachten.12)

Das Jugendstilhaus in der Niederhutstraße heute, 1999.

Dadurch, daß die Kriegseinwirkungen des 2. Weltkriegs in der Niederhutstraße keine Verwüstungen anrichteten, blieb auch dieses einmalige Zeugnis der Jahrhundertwende in dieser wichtigen Achse der Stadt erhalten. Dies ist umsomehr zu begrüßen, weil sowohl während der nationalsozialistischen Zeit als auch in den Jahren des Wiederaufbaus nach dem Krieg die Periode des Jugendstils bei Fachleuten und Laien verächtlich abgetan wurde. Erst seit den 80er Jahren begann allmählich eine positive Beurteilung dieser so kurzen, alle Gebiete der Kunst umfassenden Epoche, von der das Haus in der Niederhutstraße 61 Zeugnis ablegt und gleichzeitig im Gedenken an die Familie Heymann an eine der dunkelsten Seiten deutscher Geschichte erinnert.

Anmerkungen:

  1. Auskunft des Katasteramtes Ahrweiler
  2. Aus der Bauakte des Hauses Niederhutstraße 61 im Archiv der Stadtverwaltung in Bad Neuenahr
  3. Gerd Betz: Wie erkenne ich Jugendstil Kunst? Stuttgart 1982, S.3
  4. Jugendstil, Hamburg 1987, S.8, (Deutsche Übersetzung des Buches von William Hardy: A Guide to ART NOUVEAU Style, London 1986)
  5. Vgl. die verblüffende Ähnlichkeit bei der farbigen Abbildung dieses Hauses in „Jugendstil“ S. 31
  6. G. Betz a.a.0. S. 11
  7. Vgl. Anm. 2
  8. Vgl dazu: Hans Warnecke: Die Ahrweiler Synagoge, Bonn 1983, S.51
  9. Diesen und andere Hinweise aus der Geschichte des Hauses verdanke ich dankenswerterweise Herrn Wilhelm Busch jun.
  10. H. Warnecke a.a.O. S.56
  11. Leonhard Janta: Kreis Ahrweiler unter dem Hakenkreuz. Studien zu Vergangenheit und Gegenwart, Band 2, S. 221
  12. Vgl. Anmerkung 9