Emst-Edmund Keil
Er wollte wieder allein sein. Wie in jenen Jahren, als er an Wochenenden und solange er kein Auto hatte von Valencia aus die Küste entlang mit seinem Vespino nach Gandi'a fuhr, bergauf in das von braunen Felswänden umschlossene Hochtal in sein Häuschen, das rote Steinböden hatte innen und rote Fliesen außen auf der Terrasse und rotgebrannte Schmuckziegel in der Gartenmauer und auf dem Flachdach und rote Erde unter den Oliven- und Birnbäumen. Ebenso rot war das Haus am Oberlauf der Ahr, wo Fels und Wälder keinen Weinbau mehr erlaubten. Hinterderscharfen Biegung des Flusses, wo die Namen der Dörfer an die Besatzerzeiten der Römer erinnerten. Neben der steinernen Bogenbrücke, die zwischen den steilen Waldhängen die Ortsteile verband. Hier stand es, am Fluß, in dem Forellen geangelt wurden, an der Straße, die nach einer oberhalb ausgegrabenen römischen Villa benannt wurde. Von allen Seiten geschlossen wie eine Burg. Das Fachwerk war dunkelrot gestrichen zwischen den schwarzen Balken und Streben bis hoch unters Dach wie mit dem Blut, das die Stiere Spaniens angesichts des Todes im siedend heißen Sand der Arena vergossen. Blutrot.
Vielleicht war es diese Erinnerung, die ihn das Angebot eines Freundes, dieses burgähnliche Gehöft zu bewohnen, akzeptieren ließ. Oder der Innenhof, der mit seinen grauen Steinplatten und dem mit tausend rosa Blüten sprühenden Rhododendronstrauch in seiner Mitte an die mit Wasser, Blumen und Lichtstrahlen spielenden Patios Andalusiens erinnerte. Obwohl doch das zweiflüglige Hoftor aus Holz war und nicht aus Schmiedeeisen, an den Innenwänden keine bunten Keramikkacheln zu sehen waren, sondern rußschwarze Ofenplatten, in den Ekken keine Palmen, sondern Kanonenrohre auf Holzlafetten. Aber die kleinen, auf den Hof gehenden Fenster hatten Butzenscheiben, die Türen waren streifig bemalt wie Schilderhäuser.
In der Höhe führte eine hölzerne Galerie über den halben Hof. Von der Brüstung hingen wie Doldentrauben rote und weiße Geranien. Und hinter dem Haus war ein Gärtchen mit Beerensträuchern und Obstbäumen und mit Spaliertrauben, die von der Hauswand in seinen Mund wuchsen, wenn er stillhielt, und die für ihn einen ganz unverwechselbaren und einzigartigen Geschmack hatten. Das alles gefiel ihm sofort, weil es ihn bittersüß an sein im Süden liegendes kleines Paradies erinnerte, aus dem er vor Jahren vertrieben worden war.
Obwohl die Heiterkeit des Hofes, die sommers von den ewig zwitschernden Schwalben, die über der Toreinfahrt und unter der Dachtraufe nisteten, noch verstärkt wurde, nicht zuletzt auch von wolkenlos atmender Himmelsbläue oder blitzenden Sternbildern, die nicht anders dort im Süden über ihm gestanden hatten, -obwohl das alles also sehr südlich anmutete, so wich doch diese helle Heiterkeit, sobald er im rechten Eck durch die schwere hölzerne Tür das Innere des Hauses betrat, einem nordischen Dämmer, der ihm anfangs Furcht einflößte, zumal er erst im November, einem ohnehin düsteren Monat, eingezogen war. Eine modrige Kühle wehte ihn an von kalkgestrichenen Backsteinwänden, knarrende Dielen und Treppenstufen, dunklen und niedrigen Balkendecken. Dunkel war's, so daß er auch bei Tage das elektrische Licht anknipste. Und die von den kleinen Fenstern an der Hof- oder Straßenseite hängenden schweren Stores und Gardinen verkürzten den ohnehin schwachen Lichtfall noch weiter. So lebte er zwischen Furcht und Hoffnung allein in seiner Burg, lesend und schreibend, mit wenig Kontakt zu den Nachbarn, Kleinbauern, deren Sprache, suchte er mit ihnen ins Gespräch zu kommen, er schlecht verstand, selbst als geborener Rheinländer. Weshalb sich sein gesellschaftlicher Verkehr auf Wochenenden beschränkte, wenn ihn die Freundin besuchte mit Hund und oft zusammen mit einer Freundin, manchmal auch mit Bekannten, die kochend, trinkend, schwatzend und lachend das stille Haus vorübergehend in ein lärmendes verwandelten. An heißen Sommertagen auch in ein zweites Paradies, indem sie als Adam und Eva über Hof und Treppe hüpften oder, auf der Galerie liegend, die Sonne anbeteten, während die Freundin mit Hund und mit oder ohne seine Begleitung unermüdlich über die Wiesen und durch die Wälder streifte.
Wochentags wagte er, allein, selten den Ausfall aus seiner Burg, weil er erst gegen Abend von der Arbeit in der Hauptstadt aufs Land zurückkehrte, meist erst in der hereinbrechenden Dämmerung oder bei völliger Dunkelheit oder weil er sich an sein Dichterpult zurücksehnte, an dem er seine Verse schrieb, oder auch weil er Furcht hatte, sich in dieser noch wenig zersiedelten Landschaft, in der man selten einem Menschen begegnete, zu verlieren. Zwar lief er sommers, wenn er einmal hinausging, mit offenen Sinnen und genoß den Blick auf den durch das Wiesental mal schneller, mal langsamer sich schlangelnden Fluß, auf die mit Laub- und Nadelwald dicht bewachsenen Hänge, über die hoch und weit die Wolken zogen, die Krähen heiser krächzten mit zerfransten Schwingen. Trabte winters über schneegefleckte Äcker, über die eisiger Wind blies, über verharschte Wiesen, die unter seinen Tritten knirschten, bis sie glucksend tauten unterm ersten Vogelruf. Schritt durch Nebelwände und an den flammendgelben Feuern blühender Ginsterbüsche entlang in lichtüberflutete Höhen. Später unter schwarzen Julihimmeln, aus denen sintflutartige Regen stürzten, so daß die Ahr über die Ufer trat und Wiese und Feld überschwemmte. Unter Augusthimmeln, die Feuer regneten. Das Gras brannte, die Grillen schrien, die Äpfel reiften, die roten Hagebutten und die wilden Pflaumen, die er am Wegrand aus dem Buschwerk pflückte. Bis die Hügel noch einmal erglühten in allen irdischen Farben vom hellsten Safrangelb bis zum dunkelsten Weinrot. Bevor messerscharf die Kälte furchtbare Ernte hielt unter der tanzenden Fröhlichkeit und alles niedermähte im brausenden Sturm mit der silbermondhellen Sichel des Todes. Aber auf jeden herbstlichen Sturm, das wußte er, folgte hier die weihnachtliche Stille. Auf jeden Tod, darauf durfte er hoffen, die österliche Auferstehung. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche, deren Glocken nicht müde wurden, jahrein, jahraus die Dörfler zum Gebet zu versammeln. So schlössen sich Tod und Geburt zu einem Kreis, der, nicht anders als der Fluß, niemals aufhörte zu fließen. Nie und nimmer, so lange die Erde sich drehte, Tag und Nacht wurde, Sonne und Mond schien, auf den Winter der Frühling folgte. Wer hier lebte, dachte er, müsse ewig leben.