»Man konnte uns aus der Heimat vertreiben, aber man konnte die Heimat nicht aus uns vertreiben«

Erinnerungen ehemaliger jüdischer Mitbürgerinnen aus Bad Neuenahr und Ahrweiler

Leonhard Janta

Die Erinnerungen von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und deren Aufzeichnungen wurden schon immer als Geschichtsquellen ausgewertet. Vorbehalte bestanden dagegen bis in jüngste Zeit von seilen der Geschichtswissenschaft gegenüber den Äußerungen der/des einfachen bzw. unbekannten Frau/Mannes. Bei diesen wurden vielfach u.a. Beschönigungen, Übertreibungen und ein unzuverlässiges Gedächtnis unterstellt und der Mangel an Vergleichsmöglichkeiten mit gesicherten Quellen beklagt. Erst neuerdings werden auch diese Äußerungen nach kritischer Würdigung als Quellen für die Zeitgeschichtsforschung anerkannt und zur Beschreibung der Alltagsgeschichte herangezogen.1)

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Such-Anzeige in der New Yorker Zeitung "Aufbau« vom 17. Februar 1989

Im Zusammenhang mit der Dokumentation über die NS-Zeit im Kreis Ahrweiler konnten vom Kreisarchiv eine Reihe Zeitzeugen schriftlich und mündlich über ihre Erfahrungen während der NS-Zeit befragt werden. Die Auskünfte dieser Mitbürgerinnen und Mitbürger stellen eine wichtige Ergänzung dar zu der amtlichen Aktenüberlieferung, die zudem noch lückenhaft ist. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Aussagen ehemaliger jüdischer Mitbürger.

Über eine Zeitungsanzeige in der New Yorker Zeitung »Aufbau«, der ältesten deutschsprachigen Zeitung von Juden in den Vereinigten Staaten, gelang es 1989, sechs ehemalige jüdische Mitbürgerinnen in USA und Israel ausfindig zu machen und brieflich Kontakt mit ihnen zu knüpfen. Diesen Zeitzeuginnen wurden Fragen zu ihren Erfahrungen, Erinnerungen an ihre Jugend, Schulzeit, Familiengeschichte, das Schicksal ihrerAngehörigen vor und nach 1933 sowie die Umstände der Auswanderung gestellt.2) Bereitwillig gaben die aus Bad-Neuenahr und Ahrweiler stammenden Frauen Auskunft. Sie hatten alle das Gymnasium auf dem Kalva-rienberg besucht. Es handelt sich um Erika Liebert (geb. Dresel), Hilde Reiter (geb. Vos), Ilse Blumenfeld (geb. Vos), Margot Bach (geb. Vos), Hilde Prins (geb. Metzger) und Charlotte Sonnenberg (geb. Lichtendorf). Ihnen sei an dieser Stelle ganz herzlich für ihre gewiß oft schmerzliche Erinnerungsarbeit gedankt.

Charlotte Sonnenberg (Lichtendorf) und Hilde Reiter (Vos) haben im Rahmen dieser Zeitzeugenbefragung aus dem Gedächtnis eine Liste ehemaliger jüdischer Bürger in Bad Neuenahr und Umgebung vor 1933 zusammengestellt.

Laut Statistik lebten damals in Bad Neuenahr 70 Juden, die der Synagogengemeinde angehörten. In Ahrweiler waren es 42.3) Die in der Liste genannten Familien wurden nach 1933 mit fortschreitender Verfolgung mehr und mehr aller Lebensrechte in ihrer Heimat beraubt. Familien, denen die Auswanderung nicht gelang, wurden 1942 deportiert. Ihre Spuren verlieren sich in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Der amtlichen Überlieferung aus der NS-Zeit nach waren sie lediglich "unbekannt verzogen«. Die Auflistung von Frau Sonnenberg und Frau Reiter ist somit auch ein Dokument des Gedenkens:

Erinnerungen der Zeitzeuginnen

Die »Erinnerungsarbeit« der Zeitzeuginnen enthält zahlreiche Details, Namen, Daten, familiengeschichtliche Informationen, Kindheits- und Jugenderinnerungen, vor allem an die Schulzeit. Für alle bedeutete das Jahr 1933 einen nicht mehr auslöschbaren Einschnitt im Leben. DerWandel der politischen Verhältnisse im Zuge der Machtergreifung brachte entscheidende Veränderungen, die vor allem das Leben der jüdischen Familien betrafen und eine völlig neue Lebensplanung erforderlich machten. Dabei gehörten die Zeitzeuginnen noch zu den Glücklichen, denen unter den schwierigen Bedingungen eine Auswanderung aus Deutschland gelang. Von der Verfolgung betroffen waren jedoch ihre Familien.

Hilde Reiter, geb. Vos, aus Bad Neuenahr, lebt heute in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ihr Großvater, Philip Vos, wurde 1850 in Gelsdorf geboren. Die Familie zog jedoch nach Bad Neuenahr, wo sie in der Jesuitenstraße eine Metzgerei betrieb. Der Vater von Hilde Reiter -Ludwig Vos - war bei den Bauern in der Umgebung von Bad Neuenahr bekannt und beliebt. Als Viehhändler und Metzger ersetzte er sogar manchmal den Tierarzt. Bis 1934 gehörte er der Metzgerinnung an. Seine Tochter erinnert sich noch heute an den alljährlichen Metzger-Ball. All dies änderte sich 1933, als Boykottmaßnahmen und antijüdische Hetze einsetzten, die sich bis zur Verfolgung steigerten. Übereinstimmend mit anderen jüdischen Zeitzeugen berichtete Hilde Reiter von der Integration der Familie in das öffentliche Leben der Kurstadt.

In der Familie las man die Ahrweiler Zeitung. Ludwig Vos gehörte dem Neuenahrer Männerchor an und war auch Mitglied eines Kegelclubs. Dies änderte sich jedoch 1933/34. Auch für seine Kinder war es danach nicht mehr »angenehm« einem Verein anzugehören, so daß sie sich zurückzogen, der Bruder von Hilde, Josef Vos, aus dem Turnverein. Das Verhältnis zu Nachbarn und vielen Einwohnern war insgesamt gut. Auch nach 1933 gab es Freunde, die bis zur Auswanderung zur Familie hielten und sie u.a.mit Lebensmitteln unterstützten. Ein großer Teil des Familienlebens spielte sich in der jüdischen Gemeinde und Synagoge ab. Als die Neuenahrer Synagoge am Morgen des 10. November 1938 im Zuge der Verwüstungen in der »Reichskristallnacht« in Brand gesteckt worden war, versuchte Ludwig Vos zusammen mit Julius Gottschalk, aus der brennenden Synagoge »zumindest die Thora-Rollen und Gebetsbücher zu retten, und wurden dabei von der Polizei verhaftet. Sie wurden mit noch anderen Juden aus Bad Neuenahr nach Ahrweiler gebracht ins Gefängnis, und von dort ging es in das Konzentrationslager Dachau. Mein Vater war einer von den Glücklichen, da er nach einer Zeit entlassen wurde und sich dann mit seiner Familie retten konnte. Ich persönlich war noch einmal in Bad Neuenahr nach (der) Kristallnacht, und meine Mutter zeigte mir, daß man das Grundstück dem Erdboden gleichgemacht hatte. Ich möchte hier noch erwähnen, soviel mir bekannt ist, hat mein Großvater Philip Vos das Grundstück der jüdischen Gemeinde gestiftet. Heute steht auf dem Boden ein Wohnhaus, mit welchem Recht weiß ich nicht. Da ist noch nicht mal eine Gedenktafel, daß da jemals eine Synagoge stand, was sehr bedauerlich ist und mich sehr betrübt".

Hilde Reiter-Vos, Jahrgang 1920, ging 1924 gemeinsam mit ihrer Cousine Margot Vos und mit Erika Dresel in den Kindergarten in Hemes-sen. Von 1926 bis 1930 war sie Schülerin der Kath. Volksschule (Mädchenschule in der Telegraphenstraße). Anschließend besuchte sie das Gymnasium Kalvarienberg bis 1934. Hilde Reiter erwähnt, "daß die meisten Mitschülerinnen sehr nett waren, zumindest bis 1934. Danach traten viele in die Hitlerjugend ein, und die meisten gingen auf die andere Straßenseite, wenn sie mich kommen sahen. In meiner Zeit waren auf dem Kalvarienberg sieben jüdische Schülerinnen. Die älteste war Ilse Vos, dann kam Lotte Heymann aus Ahrweiler. In meiner Klasse waren vier. Margot Vos, Erika Dresel und Ruth Borg. Die jüngste war Ruth Levy aus Ahrweiler. Die Schwestern auf dem Kalvarienberg behandelten uns genau so wie alle anderen Schülerinnen. Ich bin gerne in die Schule gegangen und ich habe schöne Erinnerungen an die Schulzeit. Meine persönlichen Erinnerungen und Gefühle an Deutschland sind gemischt, da ich mich an die gute Zeit vor 1933 und auch an die schlechte nachher erinnern kann.« Als Vorbereitung auf ihre Auswanderung besuchte Hilde Vos im Sommer 1936 für drei Wochen ein jüdisches Lager im Siebengebirge und absolvierte danach eine landwirtschaftliche Ausbildung für Palästina, wohin sie im Oktober 1939 auswanderte. Im Kibutz lernte sie ihren späteren Mann kennen. Aus der 1944 geschlossenen Ehe gingen zwei Söhne hervor. Im Jahre 1948/49 verteidigte Frau Reiter mit ihrem Mann, der schwer verwundet wurde, Israel. Ihr Mann starb 1952 an seiner Kriegsverletzung. 1957 ging Hilde Reiter mit ihren beiden Söhnen nach Amerika, wo sie seither lebt.

Ilse Blumenfeld, geb. Vos, Jahrgang 1913, stammt ebenfalls aus Bad Neuenahr. Sie lebt heute in Israel. Ihr Vater, Max Vos, war ein Sohn von Philip Vos, über den ihre Cousine Hilde Reiter schon berichtete. Max Vos besaß eine Metzgerei und Wurstfabrik mit Versand »Neuenahrer Rauchfleisch«. »Die ihm nahestehenden Freunde stammten aus dem Mittelstand und ärmeren Schichten. Mein Vater war Sozialdemokrat, wohl schon ein Erbe meines Großvaters, der schon früh den Vorwärts' las«. In den zwanziger Jahren gaben die Eltern jeden Montag umsonst Suppenfett und Brühe aus, weswegen die Mutter sogar einmal eine Geldstrafe bezahlen mußte. "Zu den Kunden der Eltern gehörten viele Hotels: 'Germania', 'Kessler', 'Pfäffle', 'Daheim' und viele andere, an die ich mich nicht mehr erinnere. Vor allem aber die Sanatorien: Dr. Rosenberg, Dr. Förster, Dr. Bluth. Dr. Bluth war getaufter Jude, Chorleiter in der evangelischen Kirche - er bekam einmal einen antisemitischen Brief: aus einem Hecht wird kein Goldfisch«. Max Vos arbeitete zusammen mit dem Chemiker Harry Wolf lange Jahre im Vorstand der jüdischen Gemeinde. Ihre erste Begegnung mit dem Nationalsozialismus hatte Ilse Vos, als ihre Spielgefährtinnen aus früherer Jugend in BdM-Uniformen auftraten und sie nicht mehr begrüßten. Nach dem Besuch der Höheren Töchterschule in Bad Neuenahr ging Ilse zum Kalvarienberg und bestand dort 1932 das Abitur. Sie war in der Klasse die einzige jüdische Schülerin. Ihre beste Freundin, Margot Rosenberg, mit der sie 1934 nach Palästina auswanderte, war eine Klasse unter ihr. Dem »Berg« fühlt sich Ilse Blumenfeld bis heute verbunden. "Der Berg gab mir die Grundlage meiner Bildung in Musik, Literatur, Humanismus«. An folgende jüdische Schülerinnen auf dem Kalvarienberg erinnert sie sich: »Lotte Lichtendort (...), Ruth und Margot Rosenberg, Lotte Heymann, die 1937 oder 1938 als letzte Jüdin das Abitur - mitAuszeichnung - machte. Sie kam mit einem Flüchtlingsschiff nach Palästina, wurde eine hervorragende Biochemikerin am Weiz-manninstitut, starb leider sehr früh an Krebs. Hilde Vos, Hilde Metzger, Ruth Levy - heute Frau Teichler.« Der Boykott der jüdischen Geschäfte am 1. April 1933 ist Ilse Blumenfeld heute noch gegenwärtig. Vor dem Geschäft ihrer Eltern standen zwei SS-Männer. »Einige Freunde meiner Eltern kamen dennoch ins Geschäft. Dennoch spürte mein Vater, daß ihm der Boden unter den Füßen weggezogen war, er begann, sich um seine Auswanderung zu sorgen. Ich wanderte schon 1934 wegen des numerus clausus als erste meiner Familie nach Palästina aus - meine Eltern kamen dann 1936 hierher. Mein Kulturerbe blieb Europa, und die Sehnsucht nach europäischer Landschaft und Natur ist unauslöschlich. Aber meine Heimat ist Israel, meine Kinder und Enkel sind hier zu Hause.«

Margot Bach, geb. Vos, Jahrgang 1919, lebt heute ebenfalls in Israel. Nach dem Besuch der Volksschule in Bad Neuenahr war sie von 1930 - 1935 Schülerin auf dem Kalvarienberg. Danach verließ die Familie Bad Neuenahr, um nach Palästina auszuwandern. »Das Verhältnis zu den Schülern, Lehrern und Nachbarn war sehr gut, und ich habe heute noch Kontakt mit einigen meiner Mitschülerinnen aus der Volksschule und aus meiner Zeit auf dem Kalvarienberg. Die Schwestern auf dem Berg waren auch während der Nazizeit 1933 - 1935 sehr gut zu mir. Am 1. April 1933 sorgten sie sich um mich. Denn als ich aus der Schule kam, standen SS-Männer vor unserem Hause, um aufzupassen, daß kein Arier das Geschäft betrat. Einige meiner Freundinnen haben mich ab diesem Tage geschnitten und ihre Freundschaft abgebrochen. Aber auf der Schule im Kalvarienberg hatten die Schwestern alles versucht, um mir diese schwere Zeit zu erleichtern. Ich besuchte einige Male den Kalvarienberg und vor allem Mutter Maria Fidelis. Ich korrespondiere mit ihr, und auch mit einigen Freundinnen, die uns zum Teil in Israel besuchten. In meiner Klasse gab es noch drei jüdische Mitschülerinnen: meine Cousine Hilde Vos, Erika Dresel (Dr. Dresel und seine Frau nahmen sich das Leben) und Ruth Borg, die im Konzentrationslager umgekommen ist. Meine Erinnerungen an Bad Neuenahr sind bis zum ersten April sehr schön. Aber dann kam die Nazizeit, die uns zum Bewußtsein brachte, daß wir nicht mehr zu Neuenahr und den Neuenahrern gehörten.«

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Familie Lichtendorf in Bad Neuenahr. ca. 1926: (v.l.) Emanuel Lichtendorf. Sohn Manfred, Ehefrau Regina und Tochter Charlotte (Frau Sonnenberg)

Hilde Prins, geb.Metzger, stammt aus Ahrweiler, wo ihre Eltern in der Ahrhutstraße ein Lederwarengeschäft besaßen. Seit 1938 lebt sie in den Vereinigten Staaten. Ihre Eltern Flora und Louis Metzger und der Bruder Leo wanderten dagegen nach Israel aus. Das Leben der Familie in Ahrweiler schildert Frau Prins als sehr angenehm bis zum Jahre 1933. Die meisten Menschen waren freundlich und hilfsbereit. Hilde Metzger besuchte das Gymnasium auf dem Kalvarienberg. Sie belegte auch Kurse auf der Handelsschule in Bonn, bevor sie eine Anstellung im Büro der Kohlenbürstenfabrik in Walporzheim fand. Als sich die Verhältnisse grundlegend änderten, verlor sie diese Anstellung. Das elterliche Geschäft wurde 1933 boykottiert und von der SS bewacht. Die Kontakte zu Nachbarn nahmen danach immer mehr ab, weil viele Angst hatten, mit Juden zu sprechen oder sie zu besuchen. Hilde Metzger wurde einmal auf der Straße sogar von einigen jungen Männern bespuckt und beschimpft. Ihre Eltern schickten sie nach Holland, als sie die Vorbereitungen für die Auswanderung nach Palästina betrieben. Als Hilde Metzger 1938 in die Vereinigten Staaten auswanderte, herrschte dort gerade eine wirtschaftliche Depression. Anfangs arbeitete Hilde Metzger als Kindermädchen, besuchte aber Abendkurse, um Sekretärin zu werden. Ihr Vorhaben, nach Palästina zu den Eltern zu gehen, gab Hilde Metzger auf, als sie ihren späteren Mann kennengelernt hattte. Ihr Mann arbeitete als Niederländer für die niederländische Exil-Regierung in New York und war 1945 bei der Weltbank in Washington beschäftigt. Seit dem Tod ihres Mannes im Jahre 1986 widmet sich Hilde Prins sozialen Aufgaben und der Familie ihrer Tochter.

Charlotte Sonnenberg, geb. Lichtendorf, wurde 1910 in Bad Neuenahr geboren. Sie lebt heute in den Vereinigten Staaten. Emanuel und Regina Lichtendorf - ihre Eltern - waren seit 1907 in Bad Neuenahr ansässig, wo sie in der Kreuzstraße ein Manufakturwarengeschäft hatten. Zu den Kunden der Eltern gehörten Nachbarn, Bürger aus der oberen Kreuzstraße, Leute aus Beul. Hemmessen, Ahrweiler, Mütter von Schülerinnen des Kalvarienbergs sowie Bauern aus umliegenden Dörfern: Bengen, Nierendorf, Kirchdaun. In der Familie wurden die Neuenah-rer Zeitung, der Bonner Generalanzeiger und das Berliner Tageblatt gelesen. Bei Wahlen stimmten die Eltern für das Zentrum. Als glühender Patriot folgte der Vater dem Motto »Deutschland über alles«. Charlotte Sonnenberg erinnert

sich: "wenn im I. Weltkrieg Kinder für 1, 2 oder 3 Mark einen Nagel ins Eiserne Kreuz schlugen, durfte ich 100 Mark zeichnen. Bei jedem Sieg schleppte mein Vater die Hanteln auf den Balkon, um die Fahnen daran zu befestigen.«

Familie Lichtendorf gehörte dem Eifelverein an und wanderte viel. Charlottes Bruder Manfred sang im Neuenahrer Männerchor. Als begabter Klavierspieler wirkte er auch bei Konzerten im Barocksaal des Kurhauses mit. Von der Sexta bis zum Abitur im Jahre 1923 besuchte er das Realgymnasium Ahrweiler. Anschließend studierte er Jura und Zahnmedizin. Von München aus wurde er ins KZ Dachau verschleppt, nach drei Monaten jedoch freigelassen, so daß er noch Ende 1939 in die Vereinigten Staaten auswandern konnte. Während Charlotte Lichtendorf in ihrer Jugend nie »Judenhaß« gespürt hatte, kam es zwischen ihrem Bruder Manfred und Jungen aus der Volksschule »gelegentlich zu Schlägereien, wenn sie ihm nachriefen: Jüd, Jüd, Jüd, hep, hep, hep - steck die Nas' in die Wasserschep.«

An ihre Schulzeit denkt Charlotte Lichtendorf oft und gerne zurück, besonders an die Jahre von 1926 bis zum Abitur im Jahre 1929 auf dem Kalvarienberg. Hierzu führte sie aus: »Neben der Erziehung im Elternhaus verdanke ich den Ursulinen meine Erziehung, was den Drang zum Lernen betraf und meine moralische Haltung mein Leben hindurch beeinflußte.«

Nach dem Abitur begann Charlotte Lichtendorf ein Studium, mußte dies allerdings aufgeben, weil ihre Eltern nach 1933 aufgrund der nationalsozialistischen Boykottmaßnahmen ihre Einnahmen verloren und verarmten. Die beiden Häuser der Familie in Bad Neuenahr wurden zwangsversteigert und die Eltern mußten in eine kleine Wohnung in der Wendelstraße ziehen. Der Vater starb 1940 und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Bad Neuenahr bestattet. Die Mutter wurde 1942 von Neuenahr aus deportiert und ist vermutlich in Auschwitz vergast worden.

Charlotte Lichtendorf arbeitete Anfang der dreißiger Jahre als Kontoristin in Leipzig. Dort lernte sie auch ihren ersten Ehemann, Dr. Herbert Alexander, kennen. Mit ihm, den sie mit einer Schiffskarte nach Schanghai aus dem KZ Buchenwald holte, gelang dieAuswanderung nach China. Nach dem Tod ihres Mannes in China wanderte Charlotte in die Vereinigten Staaten aus. Hier heiratete sie Henry Sonnenberg. In der Rückschau stellte Charlotte Lichtendorf über ihren alten Heimatort Bad Neuenahr fest: »Ich habe Bad Neuenahr geliebt, wie nur jemand seine Heimat lieben kann, und wie jemand im Exil gesagt hat, 'Man konnte uns aus der Heimat vertreiben, aber man konnte die Heimat nicht aus uns vertreiben'. Welche Erinnerungen habe ich? Eine sorgenlose, unbeschwerte Jugendzeit. Die Stille im Winter mit Schnee und Rodeln. Im Frühling hörte man, wie zur Vorbereitung der Saison in den Hotelgärten die Matratzen geklopft wurden. Und manchmal Hochwasser, wenn die Ahr ihren Weg durch die Kreuzstraße nahm. Im Sommer Hochbetrieb mit den Kurgästen, Karussell und Schaukeln auf dem Spielplatz im Kurgarten, das Kurorchester unter der Leitung von Herrn Juettner im Kurgarten und abends vor dem Kurhaus.

Als ich 1977 mit meiner Enkelin auf der Autobahn über die Ahrtalbrücke fuhr, schaute ich nach Neuenahr hinüber und sah die vertrauten Sichten: den Neuenahrer Berg, die 'Waldesruh' am Berghang, den Turm der Rosenkranzkirche, die Landskrone. Aber zu der Zeit war es mir innerlich noch nicht möglich, 'heimzukehren'. Seit 1979, zu unserer 50jährigen Abiturfeier, war ich viermal dort. Ich habe frühere Freundinnen aufgesucht und von vielen den Ausdruck des Bedauerns gehört über das, was man den Juden in Deutschland angetan hat. Amerika ist mit neuen und guten Freunden meine zweite Heimat geworden, und ich bin dankbar, daß man mich als Vollbürger übernommen und anerkannt hat.«

Anmerkungen:

  1. Vgl.: Niethammer. Lutz (Hrsg.) Lebenserfahrungen und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der "Oral History". Frankfurt/M. 1980

  2. Die Ausführungen stützen sich auf die Briefe der folgenden Zeitzeuginnen Aus diesen Schreiben wird auch zitiert:
    - Hilde Reiter, geb.Vos, Briefe vom 10. April 1989. 18. Juli 1989.4. November 1989,
    - Ilse Blumenfeld, geb.Vos, Briefe vom 18 Juli1989und2 August 1989.
    - Margot Bach. geb Vos. Briefe vom 18. Juli 1989 und 14. August 1989.
    - Hilde Prins, geb. Metzger, Briefe vom 27. Februar 1989 uhd 15. Juhi 1989.
    - Charlotte Sonnenberg, geb.Lichtehdorf. Briefe vom 15. April 1989, 21 Juni 1989 und 23. Juli 1989. Die Briefe sind im Kreisarchiv Ahrweiler archiviert.

  3. Vgl.: Führer durch die jüdische Gemeindeverwaltung und Wohlfahrtspflege in Deutschland 1932-33. Hrsg. von der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden o 0 u.J S. 216ff. Rheinprovinz.