Der Reliquienschild der Ahrweiler Bürgerschützen

Johannes Roth

Drei Gegebenheiten haben nach Dr. Peter Joerres — geb. 1837 in Weiden bei Aachen, gest. 1915 als hochangesehener Ehrenbürger der alten Rotweinstadt — zur Entstehung von Schützengesellschaften geführt. In seiner grundlegenden Festschrift zur 500jährigen Jubelfeier der St.-Sebastianus-Bürgerschützen-Gesellschaft zu Ahrweiler im Jahre 1903 schreibt er (S. 22): »Das gemeinsame Auftreten der Schützen im Dienste der Stadt und des Landesherrn, die notwendige Übung im Gebrauche der Armbrust und später der Büchse, drittens auch der sich überall geltend machende Gesellschaftstrieb des späten Mittelalters bewirkten, daß die Schützen hier und an allen einigermaßen bedeutenderen Orten Nordwestdeutschlands zu Vereinigungen sich zusammenschlössen, welche zunächst den Zweck hatten, den Frohsinn zu pflegen und ihren Mitgliedern durch stete Schießübungen eine möglichst große Treffsicherheit zu verschaffen. Der durchaus christliche Sinn der Zeit bewirkte, daß die Schützengesellschaften sich einen Schutzheiligen erwählten und sein Fest feierten. Dieser Schutzpatron war meist der hl. Sebastian, der ja nach der Legende für den Glauben an Christus auf den Befehl Diokletians mit Pfeilen durchbohrt wurde.«

Schon bald entwickelten diese Schützengesellschaften bei ihren alljährlich wiederkehrenden Festen ein lebendiges, volkstümliches Brauchtum, so beim Königsvogelschießen, bei der Festfeier zu Ehren ihres Schutzpatrons, bei öffentlichen Schießspielen, zu denen auch die Schützen anderer Städte eingeladen wurden. Zu diesem vielfältigen Brauchtum gehörte nach Dr. Joerres seit dem 17. Jahrhundert die Sitte, daß der jeweilige Schützenkönig zur Erinnerung an seinen Königsschuß und an seine Regierungszeit einen Brustschild zur sog. Königskette stiftete, der außer seinem Namen und persönlichen Daten öfters auch lokale oder gar überörtlich zeitgeschichtliche Bezüge trug. Der älteste noch vorhandene Königsschild der Bürgerschützen von Ahrweiler datiert, wie das eingravierte Chronogramm besagt, vom Jahre 1752; der älteste Schild der Junggesellenschützen nennt Franziskus Burdach als König des Jahres 1714. Zweifelsohne wurden bereits früher solche Brustschilde gestiftet, aber sicherlich sind in den vielen Kriegswirren des 17. und 18. Jahrhunderts manche abhanden gekommen, gestohlen oder als »Souvenir« mitgenommen, andere gar in Notzeiten versilbert und verkauft worden.

Erhalten geblieben ist erfreulicherweise der massive silberne Vogel, den die Stadt Ahrweiler 5 Jahre nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges 1653 der Gesellschaft der Bürgerschützen stiftete; ein kleines Schild trägt das jahrhundertealte Stadtwappen von Ahrweiler: das kurkölnische schwarze Kreuz auf weißem Grund und den Adler der Grafen von Are, auf der Rückseite die Widmung: Dero Stadt Arwyller 1653.

Die stattliche Zahl der vorhandenen Königsschilde wurde in einmaliger Weise bereichert durch den Schild, den 1925 Toni Jarre als erster Schützenkönig nach dem Ersten Weltkriege stiftete. Seine subtile künstlerische Gestaltung macht ihn zu einem Wertstück rheinischer Goldschmiedekunst, das dem Kunstliebhaber viel zu sagen hat. Darüber hinaus ist er für die Bürgerschützen von besonderer Bedeutung dadurch, daß er eine Reliquie ihres Schutzpatrons, des hl. Sebastianus, in sich birgt.

Daß es dazu kam, ist der Initiative und dem beharrlichen Bemühen ihres damaligen Chronisten, Carl von Ehrenwall, zu verdanken. Im Oktober 1924 besuchte er in Begleitung des aus Ahrweiler stammenden Franziskanerpaters Rudolf Cyrillus Jarre — gestorben 1952 als Erzbischof von Tsinan im Gefängniskrankenhaus der chinesischen Kommunisten — und dessen Confraters Luchesius Semler die Kirche und die Katakombe des hl. Sebastian an der alten Konsularstraße Via Appia in Rom. Dabei wurde ihm nach seinen eigenen Worten »auf Wunsch alles auf den hl. Sebastian Bezügliche in der St.-Sebastian-Basilika und in der darunter liegenden Katakombe gezeigt, namentlich auch die alte, erste Grabstätte desselben, von deren Marmoreinfassung der Herr Guardian des anstoßenden Klosters ihm einige weiße und grüne Marmorstücke überreichen ließ.« Diese wurden vom Bildhauer Lancier, Ahrweiler, in eine rundliche Form gebracht und in den Deckel der Eichentruhe eingelassen, die Leopold Kreuzberg, Schützenkönig des Jahres 1883 und des Jubeljahres 1903, stiftete und die sich im Schützenzimmerdes Ahrgau-Museums befindet.

Reliquienschild der Ahrweiler Bürgerschützen
Foto: Kreisbildstelle

Ausführlich und unter Beifügung des gesamten zugehörigen, umfangreichen Schriftwechsels berichtet der Chronist Carl von Ehrenwall, wie er bei seinem Besuch der Kirche und der Katakombe und im Gespräch mit den genannten Franziskanerpatres Jarre und Semler auf den Gedanken kam, sich um eine Reliquie des Patrons der Schützen zu bemühen. Seine Beharrlichkeit und vor allem das zielstrebige Bemühen der beiden Patres führte zum Erfolg. Aus den Reliquienschätzen eines befreundeten Klosters erwarben beide eine Reliquie des hl. Sebastianus, die sie Weihnachten 1924 nebst Dokument der Echtheit nach Ahrweiler sandten. In seinem Begleitbrief schreibt Pater Luchesius wörtlich: »An der Echtheit der zugesandten Reliquie brauchen Ew. Hochgeboren nicht zu zweifeln. Ich habe mich noch eigens bei der Postulatur erkundigt.« Das genannte Dokument der Echtheit bestätigt in einem langen Schriftsatz in lateinischer Sprache durch handschriftliche Eintragung, daß es sich um »ein hl. Teilchen aus den Gebeinen des hl. Märtyrers Sebastianus in silberner ovaler Kapsel« handelt.

Nun galt es, der Reliquie eine würdige Fassung zu geben. Das geschah in den Monaten April und Mai durch die Goldschmiede- und Emaillierwerkstatt Gabriel Hermeling, Köln. Dazu mußte die Reliquie kirchlicherseits versiegelt werden. Das besorgte der Geheimsekretär des damaligen Kölner Weihbischofs Hammels, Ka-plan Hinsenkamp, der später Pfarrherr am Bonner Münster und Stadtdechant von Bonn war. Zum Schützenfest des Jahres 1925 konnte Toni Jarre der Gesellschaft den kunstvoll gestalteten Brustschild mit der eingelassenen Reliquie übergeben.

Der Schild ist aus schwerem Silber getrieben und stellt ein Oval dar, das auf den ersten Blick symmetrisch erscheint, bei näherem Zusehn jedoch keineswegs in allen Einzelheiten spiegelgleich oder symmetrisch ist. In der Mitte wächst aus einem mächtigen, weit ausgreifenden Wurzelstock ein stilisierter, kräftiger Stamm, der sich oben in ebenfalls stilisierte, d. h. nicht naturgetreu nachgeahmte Äste verzweigt. Mit vier Windungen eines dicken Seiles ist der Heilige an den Stamm gebunden, die Hände sind ihm auf dem Rücken gefesselt. Von drei Pfeilen getroffen, hält sich der gemarterte Offizier noch mühsam aufrecht, aber bald wird er, von weiteren Pfeilen durchbohrt, verbluten und sterbend zusammenbrechen. Vorwegnehmend ist sein Haupt bereits vom Nimbus oder Glorienschein — wir sagen: Heiligenschein — umgeben. Ein in starken Farben leuchtendes, durch Strichelung doppelt strahlendes Email als Hintergrund hebt den Heiligen und den Stamm als Mittelpunkt scharf heraus. Die Farben dieses Email verdienen in ihrer Stufung und Symbolik besondere Beachtung. Es beginnt unten mit einem satten und saftigen Grün als der Farbe der fruchttragenden Erde, der ja auch der Heilige als Mensch angehört, Darüber folgt die Farbe der untergehenden Sonne, ein leuchtendes Orange, dessen Strahlen nach links und rechts flach zur Erde gehen und den Sonnenuntergang andeuten. Bezogen auf die Figur des Heiligen, versinnbildlichen diese Strahlen der untergehenden Sonne das irdische Sterben und Vergehen, aber nun folgt nach oben ein blasses Grau-Blau, dessen Strichelung von der Körpermitte des Märtyrers aus der Waagerechten mehr und mehr zur Senkrechten aufsteigt in das tiefer und satter werdende Blau des Himmelsgewölbes. Dieses Blau, das als Farbe allein die mannhafte Glaubenstreue des Heiligen versinnbildlicht, wird durch die zum Himmelszelt aufsteigenden Strahlen zum Symbol dafür, daß der zum irdischen Tod Gemarterte in die Herrlichkeit des Himmels aufgenommen ist.

Dieses Hauptstück des Schildes ist dreifach umrahmt, zunächst durch ein schlankes Geranke aus feingliedrigem, palmenartigem Blattwerk; ihm folgt ein breiteres, in leichten Bögen sich schwingendes Band in glattpoliertem Silber, das die Beschriftung trägt (s. u.), und den äußeren Rand rundum bildet gehämmertes Zierwerk, das rechts ohne Anlehung an über-kommene Stilformen die getriebene Hämmerung handwerklicher Schmiedekunst erkennen läßt.

In der Mitte unten ist die silberne Kapsel mit der Reliquie eingefügt, die von der Vorderseite durch ein diagonal gekreuztes Gitterwerk sichtbar wird. Hier erscheint nun auch die irgendwie zu erwartende Märtyrerfarbe Rot, die in das beschriebene Email und seine Farbensymbolik nicht unterzubringen war. Die Beschriftung auf dem blankpolierten Oval der Vorderseite lautet:

Aus der Inflation ins Heilige Jahr 
Leitete der Schützen Schar 
Die Fürbitte St. Sebastiani 
Und Schützenkönig Jarre Tony.
1922-1925

Die Rückseite trägt den Namen des Stifters: Toni Jarre, Schützenkönig 1922. Sein Nachfolger als König wurde 1925 Matthias Mies, der Besitzer des bombenzerstörten Hotel-Restaurants »Vier Winde« gegenüber dem heutigen »Alten Zunfthause«. Er stiftete zu dem Reliquienschilde eine schöne silberne Kette mit einem kleineren Schild, das seinen Namenspatron, den hl. Matthias, darstellt. Dieser Heilige war an die Stelle von Judas dem Verräter durch Losentscheid in die Zahl der zwölf Apostel aufgenommen worden; er ist der einzige Apostel, dessen Gebeine nördlich der Alpen sich befinden, in der Matthias-Basilika in Trier. Die Legende berichtet, Matthias habe in Äthiopien gepredigt und sei dort mit dem Beil hingerichtet worden; die Kaiserin Helena, Mutter des Kaisers Konstantin, habe seinen Leichnam in ihre Lieblingsstadt Trier überführen lassen. Nach anderer Lesart wurde er Märtyrer durch Kreuzigung oder durch Enthauptung. Auf dem kleinen Königsschild sind ihm als Attribute ein breites Beil mit beidseitiger Schneide und ein großes Buch — die Bibel oder ein Evangeliar — beigegeben. In Silber getrieben, ist dieser kleinere Schild auch von der Firma Hermeling, Köln, geschaffen und in Form und Gestaltung ganz dem Reliquienschild angepaßt. Die Rückseite trägt die Widmung:

Die Kette mit Schild von St. Mathies 
Schenkt Euer König Mathias Mies. 
In Treue und Eintracht noch viele Jahr 
Behüt sie die wackere Schützenschar! 
Anno 1925

So sind St. Sebastianus, der Schutzpatron der Bürgerschützen von Ahrweiler, und St. Matthias, der Schutzpatron des Bistums Trier, an einer Kette vereinigt und werden als sog. Interimsschild bei offiziellen Anlässen vom jeweiligen König der Bürgerschützen getragen. Und so wie die im Heimatjahrbuch 1983 beschriebene Hauptmannskette bleibendes Symbol und stete Mahnung ist, allezeit in Treue der Heimat verbunden zu bleiben, so ist der Interimsschild mit der Reliquie des hl. Sebastianus und dem Bild des Apostels Matthias für die Ahrweiler Schützen das Pfand ihrer religiösen Bindung und Verpflichtung. So hat es ja auch der hochselige Oberhirte des Bistums Trier, Bischof Franz Rudolf Bronewasser, gemeint, als er vor 59 Jahren — am 15. Juni 1926 — in das alte Schützenbuch von Ahrweiler sich einschrieb mit dem Wahlspruch:

Deo et patriae!
Gott und dem Vaterlande!
Gott und der Heimat!