Das Mittelrheingebiet und die »Goldene Meile«

Dr. Günther Schell

Das Rheinische Schiefergebirge, in das unsere heutige Mittelrheinische Landschaft eingebettet ist, wirkt wie eine natürliche Sperre zwischen den Tiefländern der Ober- und Niedrrheinlande. Dieser sperrende Riegel ist durch den Rhein in einem über 100 km langen, steilwandigen und vielfach gewundenem Engtal durchbrochen worden. In früheren Zeiten erwies sich der wilde Stromcafton zwischen Singen und dem Drachenfels als so siedlungs- und verkehrsfeindlich, daß die damaligen Durchgangsstraßen zwischen Ober- und Niederdeutschland ausnahmslos auf den Gebirgshöhen verliefen. Heute sind die Felsbarren und Riffe längst gebändigt und die »Mittelrheinstraße« zählt zu Europas wichtigsten Verkehrsstraßen1. In dem Bereich des unteren Mittelrheintales, das vom Neuwieder Becken bis zur Kölner Bucht reicht, treten mit der Eifel im Westen und dem Westerwald sowie dem beginnenden Siegerland im Osten die nördlichsten Teile des Rheinischen Schiefergebirges an den Fluß heran. Allerdings bildet das Rheintal innerhalb seiner unteren mittelrheinischen Bergstrecke zwischen Bad Breisig und Remagen nochmals eine Verbreiterung: Diese 10 km lange und bis zu 2,5 km breite fruchtbare Verebnung der vorwiegend linksrheinischen Niederterrasse ist wegen ihrer besonderen Anbaugunst als »Goldene Meile« benannt worden2 und bis heute als solche in den topographischen Karten auch geführt.

Das Rheinische Schiefergebirge stellt in seiner Gesamtheit einen Faltenrumpf aus dem Erdaltertum (Paläozoikum) dar, gekennzeichnet durch schnell wechselnde, steil gestellte Gesteinsschichten aus überwiegend Quarziten, Sandstein, Grauwacken und Schiefer, zu denen stellenweise noch Kalkstein hinzutritt. Lediglich der Hohe Westerwald besteht aus Basaltdecken. Die Oberfläche des Gebirgsrumpfes wird aus Hochflächen, Hochmulden und Schwellen, welche um 500 bis 800 m über dem Meeresspiegel (NN) aufragen, mit aufgesetzten Vulkanruinen gebildet. Wälder, Äcker und Grasland geben diesen feuchten, abweisenden Höhen ihre eigene Prägung3. Sie bilden einen auffallenden Kontrast zu den Rebenterrassenkulturen in den Tälern von Rhein und Ahr. Zwischen diesen Hochflächen und dem Rheintal mit seinen Nebentälern haben sich treppenförmig Stockwerke verschiedener Breite in 100 bis 300 m über den Flußläufen eingelagert. Täler und Stockwerke zusammen bilden den heutigen mittelrheinischen Landschaftsraum. Teilweise stellten diese Stockwerke tektonisch vorgezeichnete Flußterrassen des Rheins und seiner Nebenflüsse dar, gekennzeichnet durch die aufgelagerten Flußschotter mit dem vielfach überlagerten Löß. Während im oberen Mittelrheintal stromwärts Koblenz diese Terrassen nur als schmale Leisten zwischen dem Tal und der Hochfläche eingelagert sind, erreichen sie unterhalb der Andernacher Pforte die Ausdehnung von weiten Hochebenen4. Aufgrund seiner natürlichen Ausstattung setzt sich das Mittelrheingebiet aus vier sehr verschiedenen naturräumlichen Einheiten zusammen5: den Laacher Vulkanen, der Mittelrheinischen Bucht, dem Pleiser Hügelland und dem Siebengebirge. Zwar scheinen die beiden Vulkanregionen um Laach und das Siebengebirge äußerlich sehr ähnlich, die Verwandtschaft beruht jedoch lediglich auf der gemeinsamen vulkanischen Entstehung, in Ausstattung und Gefüge hingegen zeigen sie erhebliche Abweichungen. Die Laacher Vulkane formieren sich auf einem Grundgebirgssockel aus jungen Schlackenvulkanen mit Lavaergüssen, Tuffdecken und Maaren, das Siebengebirge hingegen aus tertiären Vulkanbergrudimenten festen Lavagesteins mit Tuffdecken im Grundgebirgsrahmen — auf der einen Seite Gebilde des Aufbaus, auf der anderen Seite Gebilde des Abbaus. Diese Unterschiede in der naturräumlichen Entwicklung haben zwangsläufig auch Differenzierungen im naturräumlichen Gefüge zur Folge gehabt.

Insgesamt stellt das Mittelrheintal die natürliche Pforte zwischen dem südlichen und dem nordwestlichen Mitteleuropa dar. Diese Pforte gliedert sich wiederum in zusätzliche Pforten und Talweitungen und gibt damit den typischen Charakter dieser Landschaft wieder. Mit dieser reichen horizontalen Gliederung des Mittelrheintales ist seine vertikale Aufteilung aufs engste verbunden. Die Hänge steigen nicht gleichmäßig aus der Talsohle bis zu den in 400 m NN gelegenen Rumpfhöhen des Gebirges auf, sondern sie sind in drei große und zahlreiche kleine Absätze zerlegt. Diese einzelnen Flächenstücke in den verschiedenen Höhenlagen treten in den Engtalabschnitten wesentlich deutlicher zutage als in den Beckenstrecken.

Auf den Flächen der einzelnen Hangabsätze und Stufen sind Flußgerölle abgelagert, welche bereits Mitte des vergangenen Jahrhunderts zu dem Schluß führten, daß es sich dabei um ehemalige Strombetten des Rheins handeln mußte. Doch ein Fluß allein kann ein solches Tal nicht gestalten, er braucht zusätzliche Materialien, aus denen er formen kann. Am Ober- und Niederrhein sind es in erster Linie die von ihm verfrachteten Geröll-, Schotter- und Schwebmassen, aus denen er Formen bildet, am Mittelrhein aber das Gebirge, in dem er fließt. Der Charakter einer solchen Terrassenlandschaft verbindet die Teillandschaften untereinander und bestimmt zugleich die Grenzen des Mittelrheintales: wo die Landschaften am Rhein ohne Flußschotter oder ohne Talform auftreten, gehören sie dem Mittelrheintal nicht mehr an. Das Mittelrheintal ist als Terrassenlandschaft eine genetisch einheitliche Gestalt, deren Grenzen durch ihre eigene Entwicklung gezogen sind. So bauen sich alle Einzelformen von zwei Ursachenreihen aus auf: Vom Strom her die Abfolge der Terrassen, vom devonischen Gebirge her die Strukturen und Formbeziehungen.

So gesehen erstreckt sich das untere Mittelrheintal zwischen dem oberen Ende der Andernacher Pforte und der Pforte von Rolandswerth in einer Länge von 27 km bei einer Tiefe von 125 bis 150 m. Die Breite der Talsohle schwankt zwischen 400 und 2 600 m, die lichte Talweite, d. h. die Entfernung der oberen Talkanten voneinander, erstreckt sich von 825 bis 3 750 m, die Strombreite liegt zwischen 225 und 900 m im Durchschnitt6.

Der durch geräumige Inseln mehrfach gespaltene Strom hat auf seinen mächtigen Talboden-schottern das Stilmotiv von wechselständig angeordneten »Halbmonden« geschaffen: Es sind die vier großen Halbmonde von Rheinbrohl-Hönningen, Niederbreisig-Remagen (»Goldene Meile«), Erpel-Unkel und Honnef, dazu kommen die zwei kleinen von Namedy und Leutesdorf.

Wegen des Wechsels von vier Talengen, nämlich denen von Andernach, Hammerstein, Unkel und Rolandswerth sowie der durch sie eingeschlossenen Talweitungen läßt sich das untere Mittelrheintal zwanglos in drei Untereinheiten aufgliedern: Andernacher Pforte, Linz-Hönnin-ger Weitung und Honnefer Bucht7. Die in der Mitte des unteren Mittelrheintales gelegene Linz-Hönninger Talweitung erstreckt sich mit der breiten Ahrtalmündung 16 km lang als »Goldene Meile« und bildet dabei ein nur 120 bis 140 m tiefes, breites und gradliniges Kastental mit weiten Stromschwingungen; die Aufschüttungsböden erreichen darin an der breitesten Stelle 3 km. Talabwärts bildet die Enge von Unkel mit ihrer Breite von nur 1 000 m einen deutlichen Abschluß dieser Talweitung. Die sich ostwärts anschließende Linzer Terrasse erhebt sich aus der »Goldenen Meile« um 120 bis 140 m zwischen dem Rheintalboden und dem Niederwesterwald. Aufgrund späterer Abtragungen ist sie ein nur wenig umgeformtes und somit fast modellhaft erhaltenes Stück der rheinischen Hauptterrasse. Ebene, lößbedeckte Schotterflächen der Hauptterrassenbastionen dehnen sich landschaftsbestimmend als weite Flur zwischen wenigen tiefen Taleinschnitten aus. Außer den im Rheintalhang aufgeschlossenen Basaltdurchbrüchen der Erpeler Lay und dem bei Ockenfels stecken etwas entfernt von der Talkante in der Terrasse noch sechs weitere vom Hauptterassenrhein gekappte Basaltstiele. Zum Rheintalboden bricht die Terrasse mit deutlichem Knick, durch Hangterrassengesimse gestuft oder unmittelbar steil ab. Ihrem naturräumlichen Gefüge nach ist die Linzer Terrasse eine Reihe breiter, von Kies und Löß bedeckter Terrassenriedel mit tiefen, scharfkantigen, teils in der Terrasse wurzelnden, teils bis zur Wasserscheide des Rheinwesterwälder Vulkanrückens zurückgreifenden Tälern. Die Terrasse erstreckt sich vom Hönninger Bach im Süden bis Rheinbreitbach im Norden über insgesamt 12 km Länge bei einer Breite von 2 bis 3 km8.

Ausschnitt TK25 000, Serie M 841, Bl. 5409 Linz, freigeg. d. MilGeo-Lizenz Nr. NC 0007

Die Westseite der »Goldenen Meile« wird von der Brohl-Sinziger Terrassenflur begrenzt. Sie bildet ein 265 m NN gelegenes, vom Ahrtal und anderen kleinen Tälern zerschnittenes Plateau mit vereinzelten Vulkanhügeln. Im Norden nimmt die tiefer gelegene, mehrstufige Hauptterrasse zwischen 170 und 220 m NN den größten Teil des Plateaus ein, im Süden steigt bei Oberlützingen das Plateau auf rund 260 m NN an. Hier erhebt sich auch der diluviale Schlackenvulkan des Herchenbergs mit 324 m NN, während der Aschenkrater des Leilenkopfs an der Rheintalkante kaum aus der ihn umgebenden Terrassenflur aufragt. Die verwitterten Terrassenschotter liegen teils bloß, teils unter einer Lößdecke. Die Terrassenkiese lagern auf dem Schollenmosaik einer tertiären Landoberfläche mit Süßwasserquarziten und -konglomeraten neben gleichaltrigen Sanden und Kiesen. Dazu kommen tertiäre Tone und Trachyttuffe. Der Faltensockel, der hier außer den üblichen Unterdevongesteinen schwer verwitterbare flaserige Tonschiefer enthält, ist tiefreichend zersetzt und tritt an vielen Stellen unmittelbar an die Oberfläche9.

Aus dem häufigen Wechsel der Gesteine resultiert zwangsläufig auch ein entsprechender Wechsel der Böden. Die Verwitterungsdecken auf dem devonischen Gestein sind zum Teil flachgründig und nährstoffarm. Daher sind sie meist bewaldet. Wald überzieht aber auch die Lößböden und die lehmig verwitterten Terrassenkiese. Dieser Waldreichtum auf der Terrasse westlich der »Goldenen Meile« ist sehr auffällig; er nimmt über die Hälfte der landwirtschaftlichen Betriebsfläche ein.

Die klimatischen Verhältnisse in diesem Bereich des Mittelrheintals sind ausgesprochen günstig. Wenn auch die absolute wie relative Trockenheit recht groß ist, so erlauben andererseits die verhältnismäßig hohen Temperaturen Spezialkulturen wie Wein- und Obstanbau. Die jährlichen Niederschläge mit Maximum im Sommer liegen in der »Goldenen Meile« bei unter 600 mm. Das in diesem Talabschnitt vorherrschende warm-trockene Klima führt im Juli zu Durchschnittstemperaturen von 18° C und im Januar zu 1,5° C. Die wirkliche Lufttemperatur sinkt in keinem Abschnitt des Mittelrheintales unter 9° C im Jahresdurchschnitt. Die mittlere Zahl der Frosttage (Tagesminimum < 0° C) bleibt überall unter 80 und die mittlere Zahl der Eistage (Tagesmaximum < 0° C) unter 20. Dagegen steigt die mittlere Zahl der Sommertage (Tagesmaximum mindestens 25° C) auf über 3010. Diese klimatische Begünstigung findet ihren deutlichsten Beweis in den phänologischen Daten: Aussaat, Blüte und Ernte erfolgen in der »Goldenen Meile« um mindestens 14 Tage früher als auf den benachbarten Hochflächen. Das trockene und warme Klima des Mittelrheingebietes, die felsigen Hänge mit ihrer häufig südlichen Exposition, der Strahlenreflex des Wasserspiegels und die wärmeausgleichende Wirkung des Flusses im Herbst bringen es mit sich, daß sich von der ursprünglichen Pflanzen- und Tierwelt auch Wärme und Trockenheit liebende Vertreter an entsprechend günstigen Standorten erhalten haben. So sind Eiche, Hainbuche, Eisbeere, Haselstrauch und andere in wärmeliebenden Vergesellschaftungen im Niederwald der nach Süden geneigten Hänge zu finden. Hier haben auch Trockenrasen und Felsgesträuch mit Pflanzen der Steppenheide ihren Standort. Die ungünstig exponierten Hänge hingegen sind von Buschwäldern bedeckt. So richtet sich der oft jähe räumliche Wechsel dieser so verschiedenen Hangbedeckungen nach den Windungen des Rheintals, der Zerfurchung seiner Hänge durch Nebentälchen und dem jeweiligen Gestein.

Blick rheinaufwärts zur Andernacher Pforte

 

Sinzig und die »Goldene Meile«

Eine weitere Auswirkung der Natur des Mittelrheintals, und zwar von seiner Raumlage wie auch seiner sonstigen natürlichen Ausstattung her gesehen, ist der hier gewaltig flutende Verkehr der Menschen und der Güter. Mit seinen gerafften fünf Verkehrsbändern — der Strom in der Mitte und je einer doppelgleisigen Bahnlinie und Bundesstraße auf dem linken und rechten Ufer — macht dieses Tal zu einer völkerverbindenden Straße allerersten Ranges11.

Dies gilt für den Verkehr stromauf wie auch stromab. Für die lokalen Beziehungen von Ufer zu Ufer wird der Fluß aber auch zu einem Hemmnis, da feste Brücken in diesem Bereich fehlen. Dies tritt besonders dann in Erscheinung, wenn an Tagen extremen Hochwassers oder Eisgangs die gesamte Schiffahrt einschließlich des Fährverkehrs zum Erliegen kommt. Um die Stromspanne von wenigen hundert Metern überwinden zu können, bedarf es dann Umwege über Schiene und Straße über die nächstgelegenen Brücken von 50 km und mehr. Gerade die zahlreichen Hochwasser der Jahre 1982 und 1983 haben dann gezeigt, daß für die Anlieger der »Goldenen Meile« Städte wie Bonn oder Koblenz näher gelegen sind als der jeweils gegenüberliegende Ort. Aber auch bei normalem Wasserstand wirkt sich der Rhein bereits als ein natürliches Hindernis für die Beziehungen der beiderseitigen Siedlungen aus: Immer wieder ist man überrascht, wie eigenständig und unabhängig voneinander das Leben in den kleinen Städten und Dörfern des Rheins diesseits und jenseits des Stromes verläuft.

So ergibt sich eine für das Menschenwerk zwingende natürliche Kraft des Rheintals und seines Flusses. Der Mensch hat den Strom zwar gebändigt, aber nicht überwunden. Bei Hochwasser- und Eiskatastrophen muß er der Naturgewalt seinen Tribut zahlen, denn die Bändigung ist in Wirklichkeit nur eine wohlüberlegte Anpassung an die Natur. Das gilt nicht nur für den im Tal fluktuierenden Verkehr, sondern auch für den Anbau des Weins. Technik und Wirtschaft ist es hier nicht gelungen, das natürliche Gefüge von Tal und Fluß zu überwinden12: im Bereich des Mittelrheingebietes und der »Goldenen Meile« sind Tal und Strom die eigentlichen Herrscher geblieben.

1 Müller-Miny1956, S. 167 f.

2 Ernst, S. 106 3Müller-Miny1956, S. 168

4 ebda, S. 169

5 Müller-Miny 1959, S. 211

6 ebda, S. 217 7. ebda, S. 217

8 ebda, S. 220

9 ebda, S. 222

10 Hahn, S. 178

11 Müller-Miny 1956, S. 175

12 ebda, S. 176

Literaturverzeichnis:

1. Ernst, Eugen. Der Rhein — Eine europäische Stromlandschaft im Luftbild, Brühl/Baden 1972

2. Hahn, Helmut. Das Mittelrheintal, in: Berichte zur Deutschen Landeskunde, 17. Bd., 2. H., Remagen 1956

3. Müller-Miny, Heinrich. Mittelrheinische Landschaft, in: Berichte zur Deutschen Landeskunde, 17. Bd., 2. H., Remagen 1956

4. Müller-Miny, Heinrich. Die naturräumliche Gliederung am Mittelrhein, Remagen 1959