Clusterglissandi und fließende Klänge
Der faszinierende Kosmos Neuer Orgelmusik in Sinzig
Hanns Stüßer
Wenn im März 1983 die »Internationale Studienwoche Vokal- und Orgelmusik nach 1970« in Sinzig zum 8. Mal stattfand, so ist das kein besonderer Grund zum Feiern, um so mehr ein Grund zur Freude. Denn bei dieser nun schon zur Institution gewordenen Veranstaltung Neuer Geistlicher Musik — sie begann damals mit dem Titel »Neue Orgelmusik Sinzig 1976« — trifft sich im März eines jeden Jahres die Avantgarde der Kirchenmusiker. Damit ist Sinzig seit Jahren einer der wenigen Orte — neben der Kantorei St. Martin in Kassel —, an dem die zeitgenössische Orgel- und Chormusik gepflegt wird.
Man fragt sich, wie dies möglich ist, wo doch Dietmar Polaczek schon 1978 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die »polemische These« vertreten hatte: »Die Orgel ist tot, weil ihre hauptsächliche Funktion gestorben ist, die Kirchenmusik«. Wir setzen dagegen die realistische These: Die Orgel lebt, weil es Menschen wie Peter Bares gibt, die in zäher und kontinuierlicher Arbeit und gegen manchen Widerstand von privater und öffentlicher Seite und gegen den »modernen« Sacro-Pop-Gesang die »Königin der Instrumente« in die heutige Zeit verwandelt gerettet haben. Diese These sei am Beispiel der Sinziger Orgel und der damit verbundenen Orgelwoche illustriert und verdeutlicht. Die heutige Sinziger Orgel, die 1972 von der Fa. Walcker, Ludwigsburg, installiert wurde, baut auf dem bewährten, traditionellen Klanggerüst auf: Principalbau, Mixturen, Weitchorregister und Zungenstimmen. Insoweit führt die von Bares entworfene Registrierung also die Tradition fort. Neu jedoch ist eine lückenlose Obertonreihe als Einzelaliquote ebenso wie die gemischten Stimmen, die bis zum 21. Oberton reichen.
Damit erst wurde die einzigartige Brillanz und Klarheit und der unerhörte Klangfarbenreichtum der Orgel ermöglicht. Zudem wurde das Pfeifenwerk ergänzt durch diverse Schlagwerke wie Röhrenglockenton, Harfe, metallene Klangstäbe, Xylophon, Psalterium, gestimmte Messinggabeln und ein im Mittelalter beliebtes Schauregister: der Cymbelstern. Daneben gibt es noch einige Spielhilfen, z. B. die Tastenfessel, die für moderne Stücke unentbehrlich sind.
Diese Disposition entspricht dem sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts abzeichnenden Trend in der Musik: Die Emanzipation des einzelnen Tons und als Folge die Ausweitung der Dur-Moll-Tonalität zur freien Tonalität, Zwölftonreihe oder Atonalität und paralell dazu die imense Erweiterung des Klangkörpers und des Klangverständnisses bis hin zum Geräusch. Von daher gesehen ist es leicht verständlich, daß die Sinziger Orgel das attraktivste Instrument für Neue Orgelmusik — man kann ohne Übertreibung behaupten — in der Welt wurde. Mit dazu beigetragen haben auch die »Studienwochen«, die 1976 das erste Mal stattfanden. Der Organist Raimund Böhmig, Stuttgart, schrieb damals in der »Sinziger Zeitung:« »Dozenten und Teilnehmer waren am Schluß einhellig der Meinung, daß eine solche Woche eine verdienstvolle Einrichtung ist, nicht nur für Studierende, sondern auch als Fortbildungsmöglichkeit für den Organisten im Amt. Die Sinziger Studienwoche hat noch keine Tradition, doch mit ihrem speziellen Angebot und durch die Qualität der Durchführung hat sie alle Voraussetzungen, in die Reihe der wohlrenommierten Veranstaltungen dieser Art aufgenommen zu werden«.
Prof. Zsigmond
Szathmäry, Dozent an der Musikhochschule Freiburg, und seine Frau als Registrantin
an der Sinziger Orgel
Foto: Görgler
In dieser ersten Studienwoche leitete Prof. Zsigmond Szathmäry, Freiburg, das Seminar für Interpretation, Prof. Ludwig Doerr das Seminar für freie Improvisation und Peter Bares das Seminar für liturgische Improvisation. Damit waren schon zu Beginn die Konturen für die künftige Arbeit gewonnen: In jedem Jahr sollte es gleichermaßen um Interpretation und Improvisation neuer Orgelmusik gehen; und ein weiteres Ziel war schon von Anfang an klar, daß nämlich von einem solchen Instrument schöpferische Impulse ausgehen müssen für Komponisten und Improvisatoren.
In welch hohem Maße dies auch tatsächlich geschieht, dafür mag das Jahr 1980 als Beispiel dienen: Damals erklangen in 12 Konzerten allein 25 Uraufführungen, wovon ein großer Teil dieser Werke von der Sinziger Orgel inspiriert oder sogar eigens dafür geschrieben wurden. Im In- und Ausland bekannte Organisten haben bei den »Studienwochen« mitgewirkt: Oskar-Gottlieb Blarr, Düsseldorf: Theo Brandmüller, Paris/Mainz; Christian Collum, Rostock; Xavier
Darasse, Toulouse; Hans-Ola Ericsson, Stockholm; Werner Jakob, Nürnberg; Alexej Lubi-mow, Moskau; Fred van Hove, Antwerpen; Janine Lehmann, Zürich; Robert Anderson, Dallas (Texas); Thomas D. Schlee, Wien und Günter Sommer, Dresden.1978 wurde die Internationale Studienwoche ausgeweitet auf das Gebiet neuer geistlicher Vokalmusik. Dies zog so bekannte Chöre an wie den Motettenchor der Oscar-Kirche Stockholm, das Collegium Vocale, Köln, die Schola Danto-rum Stuttgart und EXVOCO Stuttgart. Es wäre wohl interessant, die Studienwochen im Rückblick miteinander vergleichend zu analysieren und zu kommentieren, denn jede von ihnen hatte bisher ein unverwechselbares, eigenes Gesicht. Stellvertretend für alle anderen soll die Studienwoche von 1983 ausführlich dargestellt werden.
Die 8. »Internationale Studienwoche Vokal- und Orgelmusik nach 1970« wurde am Sonntag, dem 6. 3.1983, mit der Pfarrabendmesse feierlich eröffnet. In seiner Begrüßungsansprache
hob Pastor H. Kraus die Bedeutung des Su-chens nach neuen musikalischen Ausdrucksformen des Glaubens an Gott hervor, da dies auch ein Zeichen der Lebendigkeit der Gemeinde ist. Eine Kostprobe davon gab die Schola von St. Peter. Die sechs Mädchen sangen vier einstimmige Psalmvertonungen von Peter Bares aus dem Proprium des 3. Fastensonntags. Die Konzertreihe begann am gleichen Abend mit einer Programmänderung: Der Organist Felix Friedrich aus Altenburg (DDR) hatte keine Ausreisegenehmigung erhalten. Statt dessen spielte Gerhard Blum aus Datteln (Westfalen) das 1. Literaturkonzert. Er begann mit einem expressiven Stück der 85jährigen Grete von Zierlitz. Das Stück lebt aus dem Gegensatz von dunklen und hellen Klängen und Klangblöcken, wobei das Bedrohliche entsprechend dem Titel »Inferno« die Oberhand behielt. Nach einem lyrisch-meditativen »Interludium« von K. H. Langer kam »Orpheus« (1975) der DDR-Komponistin Ruth Zechlin zur Aufführung. Wenn es auch dem Hörer schwerfiel, den Zusammenhang der Komposition mit dem Orpheus-Mythos, dem Gott der Musik, der auch wilde Tiere mit den Klängen seiner Musik bezauberte, zu entdecken, so faszinierte doch der Klangfarbenreichtum und die Phantasie dieses Avantgardestückes.Auf die vier rhythmischen »Intermezzi« von M. Kern folgte dann die »Myriade II« von D. Acker, die entsprechend ihrem Titel eine »Riesenmenge« klanglicher Variationen aufwies. Nach drei kurzen Orgelvorspielen aus dem »Blankeneser Orgelheft« von H. Darmstadt beschloß Gerhard Blum sein Konzert mit der »conclusione: sich freuen und danken« aus dem »Orgelpsalter« von Robert M. Helmschrott. Heiter und beschwingt wurde dabei mit den klanglichen Möglichkeiten der Sinziger Orgel gespielt, und die zahlreichen Zuhörer nahmen die positive Stimmung mit freundlichem Beifall auf. Die Literaturkonzerte von Bernard Foccroulle (Lüttich) und Andrzey Chorosinski (Warschau) am 7. März bewiesen das große Können der Interpreten und die sichere Hand bei der Auswahl der Kompositionen. Herausgehoben sei hier die Uraufführung des »Choung Gam Songs« von Nguyen-Thien Dao. Es beginnt mit einem tiefen
Donnergrollen, das mit zerbrechlichen, hohen Tönen wechselt. Aus dieser Polarität gehen die feinen Töne gestärkt hervor bis beide Elemente — wenn auch immer noch unterscheidbar—eine Einheit bilden: Die Synthese der Dialektik von Hell und Dunkel, tief und hoch, Yin und Yan, Gut und Böse.Ganz anders das Literaturkonzert von Günter Hempel (Köln) am Dienstag: pianissimo — ein Konzert der leisen Töne. Wer je die 12 Melodien des »Tierkreises« von K. Stockhausen gehört hat, wird sie nie mehr vergessen. Hempel interpretierte sie sehr leise und zurückhaltend, womit er wohl ihren ursprünglichen Charakter — sie sind für Spieldosen konzipiert — bewahren wollte. Doch damit ging leider die Individualität der einzelnen Melodie verloren, und der typische Charakter des Löwen, des Stiers oder der Waage wurde nicht mehr deutlich. So blieben die Melodien bis zum letzten Stück, G. Hempels Eigenkomposition »Metamorphosen III« präsent und der Zuhörer erlebte die Freude der Anagnorsis, als die Fische-Melodie tatsächlich zitiert wurde.
Aus dem Konzert von Eric Lundkvist, Stockholm, am selben Abend muß das »Organum« von Siegfried Naumann erwähnt werden, da es in seinen verschiedenen Teilen einen guten Einblick in die musikalische Werkstatt der Orgelavantgarde bot. Da gab es Clusterglissandi, rotierende Hand- und Fußbewegungen, fließende Klänge, Geräusch und Percussion, alsoderfaszinierende Kosmos der Neuen Orgelmusik. Auch der Mittwoch stand im Zeichen mehrerer Uraufführungen. Friedemann Herz (Düsseldorf) spielte in Anwesenheit des Komponisten »My end is my beginning« von Victor Suslin. Die Komposition beginnt mit eindringlichem Läuten der Röhrenglocken und dunklen, stehenden Klängen, die sich im Verlauf deutlich aufhellen und im hymnischen Klang der Trompeteria ihre höchste Stufe der Vitalität erreichen. Diese Lebendigkeit ebbt jedoch im weiteren Verlauf wieder ab und das Stück endet im hohen Ton der Blockflöte. Im zweiten Konzert des Abends stand die Uraufführung von »O sacrum convivium« für Streichquartett von Peter Bares auf dem Programm. Bares verwendet als kompositorisches Material die Antiphon des Fronleichnamfestes. Die Originalität des Stückes liegt darin, daß erden alten Gregorianischen Choral mit der Kompositionstechnik von heute bearbeitet und so den Bogen zwischen alter und neuer Musik spannt. Das Steinhausen-Quartett aus Heidelberg meisterte die interpretatorische Aufgabe glänzend.
Die Konzerte wurden am Donnerstag mit Zsigmond Szathmäry fortgesetzt. In deutscher Erstaufführung spielte er u. a. die »Praefatio« von Miklos Maros. Ein Choral als Cantus firmus liegt im Baß, darüber bilden sich Klangflächen, Cluster, Staccato-Einwürfe, von Z. Szathmäry phantastisch registriert. Die Orgel wird zum bedrohlichen Monster, das sich aber am Schluß des Stückes doch noch von seiner freundlichen Seite (Cymbelstern) zeigte. Dieses und das anschließende Kammerkonzert des Collegium Vocale, Köln, bildeten die Höhepunkte der diesjährigen Studienwoche in Sinzig. Das Collegium Vocale brachte u. a. die Uraufführung der »Laudes Creaturarum Francesco D'Assisi«, von Peter Bares, mit großem Publikumserfolg. So war die Sinziger Orgelwoche, die erfreulicherweise in diesem Jahr durch den Kreis Ahrweiler großzügig unterstützt wurde, wieder eine einzigartige Bereicherung des kulturellen Lebens Sinzigs und der Umgebung. Von den 36 Werken, die aufgeführt wurden, waren allein 17 deutsche Erstaufführungen oder Uraufführungen. Alle Konzerte wurden von SWF, WDR und/ oder Deutschlandfunk aufgezeichnet, so daß die Sinziger Orgel für alle Freunde der Orgelmusik ein Begriff geworden ist. Diese Veranstaltung bietet für die Komponisten neuer Orgelmusik ein wichtiges Forum zur Vorstellung ihrer Werke, denn es ist kein Geheimnis, daß sich die Institution Kirche mit moderner Kunst schon immer schwer tat. Die interessierten Zuhörer bei den Konzerten in Sinzig oder später am Rundfunk haben die Möglichkeit der Information und der Urteilsbildung, und für die an den Seminaren teilnehmenden Organisten bedeutet Sinzig in jedem Jahr eine Erweiterung ihres Ausbildungshorizonts, denn auch an den Musikhochschulen — von Ausnahmen wie Köln oder Freiburg abgesehen — wird die Neue Musik nur stiefmütterlich behandelt. Es ist klar, daß nicht jedes Werk Neuer Musik in den Kanon der Weltliteratur aufgenommen wird, aber nirgends werden die Tendenzen und Entwicklungsrichtungen der Geistlichen Musik so deutlich, wie bei dem vielfältigen Programm solcher Studienwochen.
Musik der Zeit ist immer ein Abenteuer, auf das sich auch in diesem Jahr wieder erfreulich viele Zuhörer einließen. Das Ziel dieses Abenteuers lautet, wie es der Sinnspruch auf dem alten Gehäuse der Sinziger Orgel zeitlos ausdrückt: DEO ORGANIS LAUS.