Vor 95 Jahren

Johannes Brahms konzertierte in Bad Neuenahr

VON DR. WOLFGANG MATTHÄUS

Im Heimatjahrbuch 1957 für den Landkreis Ahrweiler hat Walther Ottendorff-Simrock von zwei Reisen des Komponisten Johannes Brahms ins Ahrtal erzählt. Dabei hat er für den Aufenthalt im Jahre 1868 über Max Kalbeck, den zuverlässigen Biographen des Meisters, hinaus eine wichtige Quelle neu heranziehen können: die „Kur- und Fremdenliste des Bades Neuenahr". Da inzwischen noch weitere Quellen hinzugetreten sind und neue Gesichtspunkte sich anmelden, soll hier nicht schon Gesagtes wiederholt, sondern dem Ereignis in einem neuen Zusammenhang nachgegangen werden.

Johannes Brahms war mit der Aufführung seines „Deutschen Requiems" im Bremer Dom am Karfreitag (io. April) des Jahres 1868 der große Durchbruch gelungen. Vor allem das deutsche Bürgertum, das von Richard Wagner nicht angesprochen war, fand in ihm den würdigen Nachfolger eines Bach, eines Beethoven. Damals schreibt Philipp Spitta, der bekannte Bachbiograph, in seinem ersten Brief an den Meister, einem tiefen und echten Bekenntnis: „Ihnen, um dessen Namen sich nahezu alle die bedeutendsten musikalischen Kräfte Deutschlands sammeln, wird an meinem Worte, insofern es von mir kommt, wohl wenig gelegen sein. Ich schreibe auch nicht deshalb; ich möchte nur angesehen werden als einer von den Vielen, die durch Ihre Töne zu glücklicheren und besseren Menschen geworden sind, und als einer von den Millionen, die es noch sein werden . . .

Es würde mir schlecht anstehen, wenn ich dem größten lebenden Componisten gegenüber den vorzüglichen Bau seiner Werke loben wollte . . . (Briefwechsel Brahms-Spitta, S. 21).

Der „größte lebende Componist": Er hatte sich nach dem Niederrheinischen Musikfest, das zu Pfingsten (am 1./2. Juni) in Köln gefeiert wurde, nach Bonn zurückgezogen, wo er schon im Sommer 1860 die behagliche Atmosphäre, die ihm für sein Schaffen nötig war, gefunden hatte. Quartier hatte er im Kessenicher Weg 6, in der Endenmannschen Villa, gefunden. „. . . das ist eine allerliebste Gartenwohnung, in der einem, wenn sonst nichts dawider ist, ganz wohl in seiner Haut sein könnte" (Brief an K. Beinthaler von Juli 1868). In Arbeit waren, außer Korrekturlesen am Requiem und Liedern, vor allem der „Rinaldo", dessen Schlußpartie wir dem Bonner Sommer zu danken haben.

Unser Bild, ein Foto aus den siebziger Jahren, zeigt eine Gruppe von Kurgästen, denen eine Appenzellerin in Landestracht frische Milch kredenzt. Milch- und Molkenkuren waren damals große Mode. Im Hintergrund das Hotel „Villa Gillissen" (heute Haus Schreiber, Hochstraße 10), das Brahms x868 zum Aufenthalt diente.

Die Rheinlandschaft war für Johannes Brahms schon von seinen ersten Besuchen her (1853) ein geliebtes Wanderziel. Im Jahre 1868 zumal hatte sich der nächste Freund, Josef Joachim, für ein paar Tage am Rhein eingefunden. Max Bruch war von Sondershausen herangeeilt, auch Clara Schumann hatte. nach einem passenden Aufenthalt, der ihr das geliebte Baden-Baden ersetzen konnte, Ausschau gehalten; die Freunde waren nach Bad Ems und zum Laacher See gefahren (Brief Josef Joachims an Brahms, Mitte Juni 1868). Clara muß bei dieser Reise auch den Sänger Julius Stockhausen besucht haben, der seinen Sommeraufenthalt mit seiner ganzen Familie und seinen Schülern in dem noch jungen Bad Neuenahr genommen hatte. Das geht aus dem Brief Claras vom 24. Juni 1868 hervor, in dem es an einer Stelle heißt: „Stockhausen besuchte ich auch . . ." Der berühmte Sänger und Gesangspädagoge hielt sich 21/2 Monate, zwischen dem 21. Mai und dem 7. August, in Bad Neuenahr auf. Die Kurund Fremdenlisten Nr. 2 bis 11, Jahrg. 1868, verzeichnen seinen Namen. Er wohnte mit Familie und Bedienung im Hause des Kreisbaumeisters Clotten, das heute noch steht (Haus Sibilla, Oberstraße 21). Brahms sucht von Bonn aus die Freunde auf, zunächst vergeblich. (Brief an Joachim vom Juni 1868: „Sehr lockt es mich zu versuchen, ob ich Euch am Rhein treffe. Aber ich bin etwas viel derzeit hin und her kutschiert und fürchte, ich verfehle Euch doch wie im Ahrtal, wo wir weder Dich noch Stockhausen fanden . . . . Für Frau Schumann lege ich wohl etwas bei . . ").

Es war wohl Clara, von deren Koblenzer Aufenthalt er von Joachim gehört hatte, der er „nachkutschierte", und der Nachsatz klingt wie ein Ruf nach der geliebten Frau, die ihm gerade jetzt so innerlich fern war. Mancherlei Mißstimmungen, die reizbare Empfindlichkeit der Älteren und die schonungslose Offenheit des Jüngeren, hatten eine unsichtbare Barriere zwischen beiden gezogen. Offenheit der brieflichen Aussprache war nicht mehr möglich, und nur im melodischen Klang ließ sich das Verhältnis sublimieren. So läßt sich der kurze Gruß von. Brahms an Clara (vom 12. September 1868) wohl am besten deuten, in dem der Hornruf seiner 1. Symphonie zum ersten Mal antönt. Und wir tun wohl recht, wenn wir dieses herrliche, lösende, befreiende Thema schon in den Bonner Aufenthalt und in die Episode von Bad Neuenahr hineinklingen lassen. Schließlich muß aber doch die Verbindung mit Stockhausen zustande gekommen sein. Denn sehr abrupt, auf der Rückseite eines Telegrammformulars, auf dessen Vorderseite der Düsseldorfer Händler Klems einen Flügel zusagt, teilt Brahms dem gelehrten Bonner Freund und Intimus dieser Wochen, Hermann Deiters, mit: „Ich bin nur bis morgen früh 6 Uhr in Bonn (22. 7. 68). Dürfte ich Sie dieserhalb ersuchen, in meinem (und Stockhausens) Namen, kraft dieses Telegraphens den Klems'schen Flügel, der bei Brambach [Bonner Musikdirektor]. steht, nach. Neuenahr beordern zu wollen, und zwar umgehend, schleunigst, als Passagiergut oder was?"

Das Vorhaben, das nun allerdings „umgehend" und „schleunigst" verwirklicht werden muß, ist das Konzert mit Julius Stockhausen und seinen Schülern, das als Vorfeier zum 10jährigen Tag der Quellenweihe am Samstag, dem 25. Juli, im großen Saal des Kurhotels vorgesehen ist. Die Anzeige zu diesem Konzert finden wir in der „Ahrweiler Zeitung Nr. 85" vom 21. Juli unter „Vermischtes". Sie soll hier als eine bedeutsame Quelle ganz abgedruckt werden:

„Neuenahr, 2o. Juli. Am Sonntag, den 26. Juli, begeht Bad Neuenahr die Feier des 1o. Jahrestages der Quellenweihe durch Ihre Mai. die Königin Augusta. Die Bad-Direktion hat bereits eine Einladung zur Betheiligung zu dem an diesem Tage im Kurhotel stattfindenden Festdiner erlassen. Am Sonntag, den 25. d. Abends wird im großen Saal des Kurhotels ein Conzert zur Aufführung' kommen, über welches wir weiter nichts anzudeuten für nöthig halten, als daß Hr. Julius Stockhausen darin freundlichst mitwirken wird. Am Sonntag Abend wird fernerem Vernehmen nach vor dem Kurhotel ein Feuerwerk abgebrannt und vielleicht auch eine Beleuchtung der Landeskrone vorgenommen werden."

Unser Komponist, dessen Mitwirken vielleicht noch nicht feststeht, wird in der Nr. 86 (vom Donnerstag, dem 23. Juli 1868) in der „Anzeige" des Konzerts genannt:

„Bad Neuenahr. Zur Vorfeier des Zehnten Jahrestages der Quellenweihe / durch Ihre Majestät die Königin Augusta / Samstag; den 25. Juli 1868 / im großen Saale des Kurhauses / Conzert, gegeben von Frl. Rosa Girzick aus Wien und Herrn Aug. Zöller / Königl. Hofopernsänger in Hannover / unter gütiger Mitwirkung der Herren Johannes Brahms und Julius Stockhausen / sowie der hier anwesenden Schüler und Schülerinnen des letzteren. / Anfang 8 Uhr. Ende 9 1/2 Uhr. Billets a 1 Thlr. sind im Bureau der Aktien-Bade-Gesellschaft, bei den Oberkellnern des Kurhauses und in der Expedition dieses Blattes zu haben. / Cassenpreis 1 Thlr. 1o Sgr."

Lassen wir den festlichen Anlaß außer Betracht, so handelt es sich wohl vor allem um ein Benefizkonzert für die in der „Anzeige" genannte Rosa Girzick. über sie gibt Max Kalbeck in seiner Biographie ausführliche Auskunft (S. 269 f.). Brahms kennt sie schon seit geraumer Zeit; und es ist sicher ein Ausdruck seiner reinen Hilfsbereitschaft, wenn er dem Ruf der Freunde, nach Bad Neuenahr zu kommen, Folge leistet und das „Herumkutschieren" auf sich nimmt. Es finden sich in diesen Jahren zahlreiche Zeugnisse dafür, daß er dem Konzertbetrieb von Herzen abgeneigt war; nur Stockhausen machte eine Ausnahme. „Ich führe so mein Amphibienleben, halb Virtuos, halb Komponist, weiter" (Brief an Joachim vom November 1868). Das „Amphibische" ist ihm zuwider, hindert ihn an Gänze und Fülle der Existenz, nur um des leidigen Broterwerbs willen erträgt er das Konzertieren.

Hier aber, wo keine äußere Verpflichtung drängt, wo er vielmehr aus freiem Bedürfnis heraus sich entscheiden kann, ist es anders. Der Aufenthalt ist ja nur kurz (wohl pur von Mittwoch, dem 22. Juli, bis Sonntag, den 26. Juli). Denn wir finden ihn in der von Walther Ottendorff-Simrock a.a.0. veröffentlichten Kur- und Fremdenliste, in der im Kleindruck auch die verbliebenen Kurgäste angeführt sind, nur in der Woche vom 17. bis 23. Juli; in der Woche vom 24. bis 30. Juli fehlt hingegen sein Name.

Über das Programm des Konzerts erfahren wir nur Andeutungen aus der Biographie Kalbecks. Sicher wurden neben der Paradenummer Stockhausens aus Boildieus, „Chaperon rouge", neben Arien, Duetten, Terzetten von Schubert (Wanderer), Rossi (Mitrane), Mozart (Titus) auch zwei Duette von Johannes Brahms aufgeführt (wohl op. 28,2 „Vor der Tür" und 28,3 „Der Jäger und sein Liebchen").

Das Konzert ist uns noch aus einem anderen Grunde bedeutsam. Denn hier läßt sich leicht an Hand der Kurlisten der Kreis wiederherstellen, den wir als die repräsentative Hörerschaft der im wesentlichen vom Bürgertum getragenen, für Bürger geschriebenen Musik von Brahms ansprechen können. Es ist ein Publikum, das im wesentlichen den höheren und mittleren Schichten des Bürgertums angehört, eines Bürgertums, das aber international (allerdings im wesentlichen ohne die romanischen Länder) sich noch „zusammensetzt".

Von da aus ergibt sich eindeutig eine wahrhaft europäische Ortsbestimmung der Brahms'schen Musik, zumindest was ihre Wirkung betrifft.

Neben den hohen Beamten und Kreisen des Hochadels (Graf Borries, Celle; Freiherr von Schele, Gräfin Pückler etc.) und der „großen Gesellschaft" (Frau Baronin Rothschild, Köln) finden sich Bankdirektoren (Hahle, Hamburg), Gutsbesitzer, Wissenschaftler, Mediziner, Pfarrer (Krumacher, Elberfeld). 46 Besucher aus Holland stellen gleichsam eine kleine Kolonie; darunter ist der Hausgenosse von Brahms, der königliche Kammerherr Baron von Andringa. 22 englische Gäste (Miß Matheus aus London, Konsul Goldschmidt aus Manchester etc.), ii Schweizer, 7 Deutschbalten aus Rußland, 3 Deutschamerikaner, je 2 Besucher aus Irland und Belgien, je z aus Serbien, Ungarn, Schottland, Algier vervollständigen das Bild. Es fehlen die Franzosen und Österreicher: 186ä liegt eben im Schnittpunkt der Jahre 1866/70!

Von der Nachwirkung ist aus dem Ahrweiler Blatt nur ein karger Bericht auf uns gekommen (Dienstag, 28. Juli). Er steht unter „Vermischtes" „Neuenahr, 27. Juli. Bad Neuenahr zeigte sich gestern (Sonntag) in reichstem Flaggenschmucke, - er galt der zehnten Jahrestagsfeier der Einweihung seiner ersten Quellen durch unsere edle Königin Augusta. Am Vorabend war die Feier bereits in glänzendster Weise eingeleitet worden durch ein Conzert, welches, in künstlerischer Beziehung auf der Höhe der Meisterschaft stehend, schwerlich in ähnlicher Weise wiederzugeben sein wird. Conzertgeber waren Fräulein Rosa Girzick aus Wien und der königl. Hofopernsänger Herr August Keller aus Hannover, freundlichst mitwirkend die Herren Joh. Brahms und Jul. Stockhausen, 'zur Aufführung kam ein diesen Künstlern würdiges Programm.

Das gestrige Festessen . . . verlief in freudigster Stimmung . . . Hochs auf König Wilhelm und Königin Augusta. Toaste . . . auf die friedliche Verbindung der Nationen, von welchen so viele an den Thermen Neuenahrs in anerkennender Harmonie verkehren, nämlich Schweizer, Holländer, Engländer und Deutsche . . . Das Fest schloß am Abend durch ein glänzendes Feuerwerk."

Es ist ein bedeutendes Bild, den Meister unter der Schar der Gäste als einen der Ihren weilen zu sehen, ihn an der Harmonie der besten Vertreter Europas teilnehmend zu wissen. Es war eine Zeit, die der Kunst noch bedeutende Möglichkeiten der Kommunikation offen' hielt, wo im wechselseitigen Gespräch der Völker der Samen einer Kunde von der Harmonie der Welt gesät wurde, in der alle vordergründigen Spannungen aufgehoben waren. Die Harmonie: Das war die ahnungsvolle Botschaft des Künstlers von der Gott-gewirkten Welt.